Die Psychoanalyse von Sigmund Freud
(c) Werner Th. Jung
1. Biographische Daten
Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 in Freiberg/Nordmähren (Tschechien) geboren und starb am 23. September 1939 im Londoner Exil . Ab 1859 lebte die Familie von Sigmund Freud in Wien. Der Vater war eine starke Autorität innerhalb der Familie und von Beruf Wollhändler. Sigmund war das erste von acht Kindern. Die Mutter Sigmund Freuds war 20 Jahre jünger als ihr Ehemann und bewunderte ihren Sohn und ließ ihm manche Begünstigungen innerhalb der Familie zukommen.
Die jüdische Familie Freud ermögliche es ihrem Sohn, in Wien Medizin und Neurologie zu studieren. 1881 promovierte Sigmund Freud, d. h. er machte den Doktor. Nach dem Studium arbeitete Freud zunächst in einem physiologischen Labor im Bereich der Forschung. Hier gab es jedoch zu wenige Aufstiegchancen, so dass Freud in verschiedenen Krankenhäusern als Psychiater und Neurologe arbeitete. Er interessierte sich als praktizierender Nervenarzt für die Erforschung psychisch bedingter Erkrankungen, vor allem befasste er sich mit der Hysterie .
Österreich ehrte Sigmund Freud vor der Euroeinführung mit diesem Geldschein
1885 kam Sigmund Freud über ein Stipendium nach Paris zu dem damals weltberühmten Professor der Neurologie und Medizin Jean-Martin Charcot. Bis zu diesem Zeitpunkt ging die wissenschaftliche Fachwelt davon aus, dass die Krankheit der Hysterie einzig und allein bei Frauen auftreten könnte. Charcot verblüffte die Fachwelt mit der These, dass die Hysterie weder ein Produkt der Phantasie, noch typisch weiblich sei. Für Charcot war die Hysterie eine Neurose, die er mit der Hypnose versuchte, zu heilen. Charcot definierte damals den Begriff Neurose als eine Erkrankung der Nervenbahnen. Während Charcot die Erklärung für Neurosen, wie z. B. die Hysterie auf rein körperliche Ebene suchte, orientierte sich Freud an psychischen, also seelischen Ursachen.
Nach kurzen Erfahrungen mit der Hypnose wandte sich Freud jedoch von dieser Behandlungsmethode ab. Der alte Freund Breuer behandelte die Patientin Anna O. mit Hilfe von Hypnose.
Bei der Hypnose dessen Stammwort ursprünglich für das Wort Schlaf steht, wird mittels Beeinflussung eine Bewusstseinsänderung herbeigeführt, die alle bewussten Funktionen wie Hören, Sehen, Reden einengt und alle Außenwahrnehmungen auf den Kontakt mit dem Hypnotiseur begrenzt. Breuer versetzte Anne in einen Trance-Zustand, also in die Hypnose, um ihr zu ermöglichen, unerfreuliche schlimme Erfahrungen in der Kindheit auszusprechen.
Dabei ging Breuer von der Annahme aus, dass das Bewusstmachen und Konfrontieren mit vergangenen schlimmen Erlebnissen gleichzeitig ein Heilungsakt für Anna O. sei. Hervorzuheben an dieser neuen Methode von Breuer war die Tatsache, dass der Klient bzw. der Patient im Mittelpunkt stand und nicht der Therapeut. Breuer diskutierte sehr viel mit Freud über den Fall Anna O. Die von ihr formulierten Phantasien, die innerhalb der Hypnose aus der Verdrängung heraus ans Tageslicht kamen, hatten viel mit Sexualität und verdrängten erotischen Wünschen zu tun. Breuer brachte unter anderem deshalb die Therapie aus persönlichen Gründen ab. Er sah sich recht schnell in einer widersprüchlichen Situation in seiner Rolle als Ehemann und als Arzt. Breuer wollte den möglichen sexuellen Hintergrund von Annas Störungen nicht sehen. Freud deutete jedoch wiederholt auf diese Erklärungsmöglichkeit.
Es kam schließlich zum Bruch zwischen Breuer und Freud. Freud hatte in dieser Zeit verschiedene fachliche Abhandlungen publiziert, u. a. auch über die Hysterie, jedoch blieb die wissenschaftliche Anerkennung zunächst aus. 1897 begann Freud mit einer Selbstanalyse, um seine eigenen Phantasien zu hinterfragen. Nach einer viele Jahre andauernden Selbstanalyse fühlte sich Sigmund Freud von manchen Angst machenden Gedanken befreit und um viele erklärende Ideen gestärkt. Die Psychoanalyse, deren Urvater und Begründer Sigmund Freud ist, war nun geboren und enthielt eine ungeheure Behauptung, die die damalige Wissenschaft und das gesamte Weltbild erschütterte: „Der Mensch“, so Freud, „sei weitgehend von seinem Unterbewussten abhängig, irrational und triebbestimmt.“
Die Psychoanalyse kann das menschliche Erleben und Verhalten beschreiben und erklären, in einer Vielschichtigkeit, wie dies kaum eine andere Theorie kann. Obwohl 1930 Sigmund Freud den Goethepreis erhielt, wurde er nie offizieller Professor an einer Universität. Da Sigmund Freud Jude war, musste er 1938 nach London vor den Nazis fliehen, er starb dort ein Jahr später.
Arbeitsaufgabe
1. Fassen Sie mit eigenen Worten die biographischen Daten von Sigmund Freud zusammen.
2. Die Grundannahmen und Grundbegriffe der Psychoanalyse
Zu den Grundthesen der Freudschen Psychoanalyse gehören das Unbewusste, der psychische Apparat (= Instanzenmodell, also ES, ICH und ÜBER-ICH), die psychoanalytische Dynamik der Persönlichkeit, die Abwehrmechanismen, die Trieblehre und die Entwicklungsphasen der Libido .
2.1 Das Unbewusste
Sigmund Freud unterscheidet zwischen dem Unbewussten, dem Vorbewussten und dem Bewussten. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass nur ein geringer Teil der seelischen Vorgänge wirklich dem Bewusstsein zugänglich sind und die meisten Vorgänge unterhalb der Oberfläche des Bewusstseins geschehen.
2.1.1 Aspekte des Unbewussten und des Bewussten
Bewusst sind laut Psychoanalyse alle seelischen Vorgänge, die der Mensch bemerkt und zu denen er unmittelbaren Zugang hat. Dieses eigentliche Bewusstsein wird von Freud in seiner Bedeutung abgewertet. Es hat lediglich die Funktion eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten. Es wird daher von Sigmund Freud auch als Wahrnehmungsbewusstsein benannt. Im Vorbewussten spielen sich alle innerpsychischen Vorgänge ab, um die der Mensch nicht spontan weiß, die allerdings durch Anstrengung und Willenskraft dem Bewusstsein größtenteils zugänglich gemacht werden können.
Freud versteht unter dem Vorbewussten die Gedanken, die augenblicklich nicht bewusst sind, aber prinzipiell bewusstseinsfähig sind und ins Bewusstsein hinein kommen können.
Das Unbewusste wird von Freud in einem deskriptivem (= beschreibenden) und dynamischen Teil unterschieden. Mit "dynamisch" meint Freud die Wirksamkeit und die Intensität, die die vom Bewusstsein ferngehaltenen Gedanken aufweisen. Unbewusst sind also die seelischen Vorgänge, die wir nicht oder nicht mehr wissen, die aber immer wieder in das Bewusstsein drängen und unser Erleben und Verhalten maßgeblich bestimmen.
2.1.2 Die Bewusstseinsebenen in Form einer Wohnung
Freud stellt die unterschiedlichen Bewusstseinsebenen in Form einer räumlichen Darstellung als Wohnung dar: Das System des Unbewussten als eine Art Vorraum gesehen, in dem sich Wünsche und Gefühle sexueller und aggressiver Natur frei bewegen. Diesem Vorraum schließt sich ein zweiter Raum an, in dem bewusstseinsfähige Vorgänge, also vorbewusste Prozesse stattfinden. Zwischen diesen beiden Räumen können wir uns -laut Freud- als Sinnbild einen Wächter vorstellen, der die Empfindungen und Regungen aus dem Unbewussten teilweise in den zweiten Raum hineinlässt. Es werden jedoch nur die Regungen hinein gelassen, die ihm genehm sind. Unerlaubte Regungen aus dem Unbewussten, die bereits auf der Schwelle in den zweiten Raum vorgedrungen sind, werden vom Wächter sofort zurück gewiesen. Dieses Zurückweisen nennt Sigmund Freud die Verdrängung. Der Wächter kontrolliert nicht nur sondern er setzt auch aktiv einen Widerstand gegen das Bewusstwerden unangenehmer Erlebnisse, Sehnsüchte und Wünsche ein. Anhand dieses Vorgangs erklärt Freud den Widerstand, den viele Patienten in der Analyse dem Therapeuten entgegen bringen, wenn dieser Verdrängungen aufheben will. Der benannte zweite Raum ist im Grunde durch eine Art dünner Vorhang abgetrennt. Diese Abtrennung entspricht dem oben dargestellten Wahrnehmungsbewusstsein.
Merke:
Das psychoanalytische Unbewusste und das umgangssprachlich Unterbewusste sind nicht immer identisch.
Oft werden im umgangssprachlichen Bereich fälschlicherweise Verhaltensweisen, die automatisch und ohne Nachdenken geschehen, als unbewusst bezeichnet.
So geschehen Handlungsweisen wie das Gasgeben, Kupplung kommen lassen und Gangschaltung bedienen beim Autofahren zeitgleich mit dem Gespräch mit dem Beifahrer und verlangen keine besonderen
Denkleistung. Im Sinne der Psychoanalyse sind derartige Verhaltensweisen nicht als unbewusst zu bezeichnen, denn sie sind jederzeit bewusstseinsfähig. Echte unbewusste psychische Prozesse sind dem aktuellen menschlichen Bewusstsein – laut Freud – entzogen. Sie drängen jedoch dauernd in das Bewusstsein und nehmen Einfluss auf das Erleben und Verhalten. Fachleute, die sich dem psychoanalytischen Begriff des Bewussten bzw. Unbewussten verpflichtet fühlen, versuchen in ihrer eigenen Umgangssprache den Begriff Unbewusst zu vermeiden bzw. ausschließlich dann anzuwenden, wenn er gemäß der oben genannten Definition passt.
2.1.3 Freudsche Versprecher und andere Fehlleistungen
Innerpsychische Prozesse des Unbewussten können versehentlich durch Witze und die berühmten Freudschen Versprecher zum Vorschein kommen. So erzählte Sigmund Freud die Geschichte eines Sitzungspräsidenten, der die Vorgänge in der Sitzung sehr negativ bewertete, mit den falsch formulierten Eröffnungsworten der Sitzung: „Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit schließe ich die … äh… eröffne ich die Sitzung des Kuratoriums .“ Der Sitzungspräsident formulierte darüber hinaus: „Aber dann sind die Tatsachen zum Vorschwein gekommen…“ Der Sitzungspräsident empfand die Vorgänge offensichtlich als Schweinerei, was er jedoch nicht offen zugeben konnte und wollte.
Das Sich-Niederschlagen unbewusster Inhalte in verschiedene Formen des Verhaltens kann auch durch Verlesen, Verschreiben, Verhören, häufiges Verlieren und zu spät Kommen geschehen. Eine weitere Form, in der unbewusste Vorgänge in symbolischen Verkleidungen ins Bewusstsein geraten sind die Träume. Daher hat Sigmund Freud der Traumdeutung einen breiten Raum zugestanden. Die Psychoanalyse, die sich zum einen in der Theorie der hier bearbeiteten Vorgangsweisen darstellt und zum anderen in Form von therapeutischen Techniken, versucht gerade auch durch Traumdeutung einen Zugang zu verborgenen Inhalten des Unbewussten zu ermöglichen.
Freud sah in den Träumen eine unbewusste Wunscherfüllung, jedoch sind diese Wünsche so verkleidet bzw. symbolisiert, dass sie einer Interpretation bzw. einer Deutung bedürfen. Beispiel: Eine Analysandin träumt, dass ein Mann aus ihrem Bekanntenkreis verstorben sei. Nach weiteren Fragen durch den Therapeuten ergibt sich die Deutung, dass der Traum für die Analysandin folgenden Wunsch offenbart: Es stellt sich heraus, dass die Analysandin sich an ein Treffen mit diesem geliebten Mann bei einem Begräbnis erinnert. Hinter diesem Traum steht der eigentliche Wunsch nach einem erneuten Treffen mit diesem Bekannten.
Arbeitsaufgabe:
2. Fassen Sie mit eigenen Worten die oben genannten Ausführungen zum Unbewussten, Vorbewussten und Bewussten schriftlich zusammen.
3. Formulieren Sie eigene Beispiele aus Ihrem Erleben, die die oben genannten Darstellungen illustrieren (=veranschaulichen).
4. Zeichnen Sie den Grundriss einer Wohnung, indem Sie die verschiedenen Bewusstseinsebenen räumlich darstellen. Erstellen Sie auch eine Symbol für den Wächter.
5. Erklären Sie die Freudschen Fehlleistungen
3. Das psychoanalytische Persönlichkeitsmodell = der psychische Apparat = das Freudsche Instanzenmodell
Sigmund Freud definiert den Begriff Persönlichkeit als Gesamtheit der stabilen psychischen Eigenheiten eines Individuums, durch die es sich mit seinen Trieben, Emotionen, besonders der Angst und der Wirklichkeit auseinandersetzt.
Freud unterscheidet in seinem Modell der Persönlichkeit drei Instanzen, die die Verhaltensweisen und Wahrnehmungsweisen eines einzelnen Menschen erklären. Als Bestandteile der Persönlichkeit sind bereits die Bewusstseinsebenen Bewusstes, Vorbewusstes und Unbewusstes dargestellt.
Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Strukturelemente oder auch Persönlichkeitsinstanzen ES, ICH und ÜBER-ICH. Diese drei Persönlichkeitsinstanzen entwickeln sich nacheinander in der frühen Kindheit. Die drei Persönlichkeitsinstanzen werden bezüglich ihrer Funktion unterschieden und in ihrer Gesamtheit als psychischer Apparat oder Instanzenmodell bezeichnet. Die Darstellung von drei existierenden Instanzen hat natürlich nur Modell-Charakter. Das heißt, dass diese Instanzen keine mit dem Mikroskop oder einem anderen wissenschaftlichen Instrument nachweisbare Realitäten sind, sondern es handelt sich um gedankliche Hilfskonstruktionen zur Erklärung des menschlichen Erlebens und Verhaltens.
3.1 Das ES
Das ES steht für das Lustprinzip, oder wie Jugendliche heutzutage sagen würden, das „Bock-Prinzip“. Es handelt sich hierbei um die älteste menschliche Instanz, die sofort nach der Geburt menschliches Verhalten steuert und beeinflusst. Es ist beherrscht von grundsätzlichen Bedürfnissen wie Hunger, Schlaf, Zärtlichkeit, Sexualität. Das ES lässt keine Moral, logisches Denken, wertende Entscheidungen oder Gut und Böse zu, sondern es strebt die Befriedigung momentaner Bedürfnisse jetzt und sofort an. Das Ziel ist die lustvolle Entspannung und die sofortige Erfüllung aller, auch durch die Werbung inspirierten, Wünsche. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Werbung in erster Linie die Persönlichkeitsinstanz ES anspricht und versucht, zu verführen. Freud schreibt zu dieser Persönlichkeitsinstanz: „Von den Trieben her erfüllt sich das ES mit Energie, aber es hat keine Organisation, bringt keinen Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu verschaffen. Für die Vorgänge im ES gelten die logischen Denkgesetze nicht, vor allem nicht der Satz des Widerspruchs. Gegensätzliche Regelungen bestehen nacheinander, ohne einander aufzuheben oder sich voneinander abzuziehen.“
Des Weiteren schreibt Freud an anderer Stelle: „Das ES ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit.“
Im ersten Lebensjahr wird das Kind eindeutig ES-dominiert handeln. Es strebt nach Triebbefriedigung und lustvoller Entspannung durch Essen und dergleichen. Die Befriedigung von Wünschen und Bedürfnissen ist jedoch nicht immer möglich. Auch für Kinder in diesem Alter. Das Kind muss sich in seinen Bedürfnissen der so genannten Realität stellen und zumindest teilweise auf die Befriedigung von Lust verzichten oder sie zumindest auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Enttäuschungen und Absagen sind zu akzeptieren. Das Kind erfährt erste Grenzen. Die Außenwelt steht naturbedingt einer sofortigen und kontinuierlichen Befriedigung von Wünschen im Weg. Aus diesen Erfahrungen heraus entwickelt sich aus dem ES die nächste Instanz, das ICH.
Merke: Freud definiert den Begriff ES als erste Persönlichkeitsinstanz der Triebe, Wünsche, der Lust und der Bedürfnisse.
Die innerpsychischen Prozesse, die von ES gesteuert werden, nennt Freud Primärprozesse.
3.2 Das ICH ist der Schlichter
Freud selbst vergleicht die Schlichtungsarbeit des ICH zwischen Umwelt und dem ES und dem noch zu bearbeitenden ÜBER-ICH mit der Interaktion eines Reiters mit seinem Pferd. Das Pferd (= ES) liefert die Kraft und die Energie, der Reiter (= ICH) entscheidet, in welche Richtung welches Ziel angeritten werden soll. Der Reiter leitet die Bewegungen des Pferdes. Oft ist es leider so, dass zwischen ICH und ES der nicht optimale Fall eintritt, nämlich dass der Reiter es nicht dahin führen kann, wo es hin will, sondern zu einem vernünftigeren Ziel. Anders formuliert: Nicht jeder Wunsch des ES kann befriedigt werden. Die Vernunft verlangt z. B. von einem Schüler nach 6,5 Wochen Ferien morgens aufzustehen und pünktlich zur Schule zu gehen. Wenn der Schüler dies schafft, hat das ICH gewonnen. Bleibt der Schüler jedoch im Bett liegen und schläft weiter, dann ist das ES der Sieger.
ES-Dominanzen können sehr deutlich zu beobachtet werden, wenn Kinder im Umgang mit ihren Eltern in der Phase der Trotzanfälle deutlich zeigen, was sie wollen. Ich will laufen, ich will jetzt mit dem Strohhalm in dem Saft herumblubbern und dergleichen, sind ES-dominierte Regungen des kleinen Kindes.
Das ICH hingegen nimmt bewusst die Außenwelt wahr und kann sich auf diese durch Veränderung und Anpassung einstellen.
Es kommt zu einer so genannten Hemmung, wenn diese Anpassung oder Veränderung nicht gelingt. Sie kann in Form einer Verdrängung von Bedürfnissen geschehen. Diese unbewusste Verdrängung ist die ursprünglichste Form eines Abwehrmechanismus, die Ängste, die im ICH entstehen, binden soll. Die Energie von verdrängten Erlebnissen bleibt aber vorhanden und versucht, in Form von Träumen, Versprechern oder psychischen Verhaltensauffälligkeiten wieder ins Bewusstsein zu kommen.
Merke: Freud definiert den Begriff ICH als die Persönlichkeitsinstanz, die die bewusste Auseinandersetzung mit der Realität und dem ÜBER-ICH leistet und daraus einen Kompromiss schließt.
3.3 Das ÜBER-ICH
Die dritte Persönlichkeitsinstanz, die aus den vorherigen beiden erwächst und vor allem aus der Interaktion mit der Realität stellt das ÜBER-ICH dar. Durch den Einfluss von Sozialisationsinstanzen wie Schule, Kirche und Elternhaus wird dem Kind ein Bewusstsein beigebracht, über die Dinge, die richtig und falsch, gut und böse sind. Gebote und Verbote sowie Mahnungen und Belehrungen werden von dem Kind im Laufe der Jahre und der Entwicklung zumindest teilweise verinnerlicht, übernommen und als richtig und wahr akzeptiert.
Auch das Erleben von moralischen Dilemma-Situationen, wie sie z. B. Lawrence Kohlberg beschrieben hat, fördert die Entwicklung der Moral. Das Moralitätsprinzip, das durch diese Umwelteinflüsse entsteht, ist das Hauptprinzip des ÜBER-ICH. Unter dem ÜBER-ICH versteht Freud zunächst den Träger des ICH-Ideals. Es entsteht durch die Identifizierung mit den Eltern nach Auflösung verschiedener Konflikte mit denselben. Vorbilder und ICH-Ideale werden irgendwann außerhalb der Familie gesucht und es entsteht das so genannte ÜBER-ICH, das im Umgang in der Umgangssprache auch das Gewissen genannt wird. Das Moralitätsprinzip des ÜBER-ICHs fragt danach, was gut oder böse, erlaubt oder unerlaubt ist. Entwicklungspsychologisch gesehen ist das ÜBER-ICH die jüngste Persönlichkeitsinstanz und vergleichbar mit einem Richter. Das Verhältnis zwischen ÜBER-ICH und ES und dem ICH sind konfliktgeladen. Freud postuliert: „Das ÜBER-ICH legt den strengsten moralischen Maßstab an das ihm hilflos preisgegebene ICH an…, und wir erfassen mit einem Blick, dass unser moralisches Schuldgefühl der Ausdruck der Spannung zwischen ICH und ÜBER-ICH ist.“
Freud geht davon aus, dass das Kind sein Gewissen, und somit sein ÜBER-ICH erst entwickeln muss und daher als Kleinkind amoralisch sei. Die Tatsache, dass das ÜBER-ICH unter anderem auch ein Teil der Moralvorstellung einer Gesellschaft bzw. einer Teilgruppe dieser Gesellschaft vertritt, zeigt hier das Prinzip der Sozialisation. Das ÜBER-ICH wird gebildet durch die Normen und Regeln einer Gesellschaft. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass Menschen unterschiedlicher Kulturen durchaus ein anderes, zumindest teilweise unterschiedliches, ÜBER-ICH haben.
Merke: Das ÜBER-ICH ist die dritte und jüngste Persönlichkeitsinstanz, welche die Sitten, Regeln, Wert- und Normvorstellungen einer Gesellschaft, einer Familie und der wichtigen Bezugspersonen umfasst und das Verhalten und Handeln des ICH im Sinne der geltenden Moralprinzipien führt.
Arbeitsaufgabe:
6. Fassen Sie mit eigenen Worten das Persönlichkeitsmodell nach Sigmund Freud schriftlich zusammen.
7. Überlegen Sie sich eigene persönliche Beispiele, in denen das ICH, das ÜBER-ICH und das ES jeweils gewonnen hat.
8. Zeichnen Sie ein dreistöckiges Haus, in dem jede der drei Etagen nach den Persönlichkeitsinstanzen benannt ist. Illustrieren Sie diese einzelnen Etagen anhand von Symbolen und Zeichnungen und versuchen Sie auch zeichnerisch den Kampf zwischen ES und ÜBER-ICH im besonderen Maße darzustellen. Stellen Sie dabei auch die Vermittlerfunktion des ICHs heraus.
3.4 Freuds Originalformulierungen zum psychischen Apparat
Im Folgenden werden Originalformulierungen von Sigmund Freud zum psychischen Apparat wiedergegeben:
„Wir nehmen an, dass das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop und dergleichen. Der konsequente Ausbau einer solchen Vorstellung ist ungeachtet gewisser bereits versuchter Annäherungen eine wissenschaftliche Neuheit. Zur Kenntnis dieses psychischen Apparates sind wir durch das Studium der individuellen Entwicklung des menschlichen Wesens gekommen. Die älteste dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir das ES; sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier (im ES) einen ersten, uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden. Unter dem Einfluss der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein Teil des ES eine besondere Entwicklung erfahren. Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen zur Reizaufnahme und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besondere Organisation hergestellt, die von nun an zwischen ES und Außenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des ICHs.“
Die hauptsächlichen Charaktere des ICHs
In Folge der vorgebildeten Beziehung zwischen Sinneswahrnehmung und Muskelaktion hat das ICH die Verfügung über die willkürlichen Bewegungen. Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erfüllt sie, in dem es nach außen die Reize kennen lernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen das ES, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung, auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt. In seiner Tätigkeit wird es durch die Beachtungen der in ihm vorhandenen oder in dasselbe eingetragenen Reizspannungen geleitet. Deren Erhöhnung wird allgemein als Unlust, deren Herabsetzung als Lust empfunden. Wahrscheinlich sind es aber nicht die absoluten Höhen dieser Reizspannung, sondern etwas im Rhythmus ihrer Veränderung, was als Lust und Unlust empfunden wird.
Überschrift:
Das ES strebt nach Lust, will der Unlust ausweichen. Eine erwartete vorausgesetzte Unluststeigerung wird mit dem Angstsignal beantwortet, ihr Anlass, ob er von außen oder innen droht heißt eine Gefahr. Von Zeit zu Zeit löst das ICH seine Verbindung mit der Außenwelt und zieht sich in den Schlafzustand zurück, indem es seine Organisation weitgehend verändert. Aus dem Schlafzustand ist zu schließen, dass diese Organisation in einer besonderen Verteilung der seelischen Energie besteht. Als Niederschlag der langen Kindheitsperiode, während der werdende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem ICH eine besondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche Einfluss fortsetzt. Sie hat den Namen des ÜBER-ICHs erhalten. Insoweit dieses ÜBER-ICH sich vom ICH sondert oder sich ihm entgegen stellt, ist es eine dritte Macht, der das ICH Rechnung tragen muss.
Überschrift:
Eine Handlung des ICHs ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des ES, des ÜBER-ICHs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß. Die Einzelheiten der Beziehung zwischen ICH und ÜBER-ICH werden durchweg aus der Zurückführung auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verständlich. Im Elterneinfluss wird natürlich nicht nur das persönliche Wesen der Eltern, sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluss von Familien-, Rassen-, und Volkstradition sowie die von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Ebenso nimmt das ÜBER-ICH im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von Seiten späterer Fortsetzer und Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentlicher Vorbilder, in der Gesellschaft verehrte Ideale.
Überschrift:
Man sieht, dass ES und ÜBER-ICHs bei all ihrer fundamentalen Verschiedenheit die eine Übereinstimmung zeigen, dass sie die Einflüsse der Vergangenheit repräsentieren, dass ES den der ererbten, das ÜBER-ICH im wesentlichen den vom anderen übernommenen, während das ICH hauptsächlich durch das Selbst-Erlebte, also Akzidentelle und Aktuelle bestimmt werden. Dies allgemeine Schema eines psychischen Apparates wird man auch für die höheren, dem Menschen seelisch ähnlichen Tieren, gelten lassen.
Überschrift:
Ein ÜBER-ICH ist überall dort anzunehmen, wo es wie beim Menschen eine längere Zeit kindlicher Abhängigkeit gegeben hat. Eine Scheidung vom ICH und ES ist unvermeidlich anzunehmen. Die Tierpsychologie hat die interessante Aufgabe, die sich hier ergibt, noch nicht in Angriff genommen. Die Macht des ES drückt die eigentliche Lebensabsicht des Einzelwesens aus. Sie besteht darin, seine mitgebrachten Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Absicht, sich am Leben zu erhalten und sich durch die Angst durch Gefahren zu schützen, kann dem ES nicht zugeschrieben werden. Dies ist die Aufgabe des ICHs, das auch die günstigste und gefahrloseste Art der Befriedigung mit Rücksicht auf die Außenwelt herauszufinden hat. Das ÜBER-ICH mag neue Bedürfnisse geltend machen, seine Hauptleistung bleibt aber die Einschränkung der Befriedigungen.
Überschrift:
Die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des ES annehmen, heißen wir Triebe. Sie repräsentieren die körperlichen Anforderungen an das Seelenleben. Obwohl letzte Ursache jeder Aktivität, sind sie konservativer Natur, aus jedem Zustand, den ein Wesen erreicht hat, geht ein Bestreben hervor, dessen Zustand wieder herzustellen, sobald er verlassen worden ist. (…)
Arbeitsaufgabe:
9. Erschließen Sie den oben dargestellten Text, indem Sie zu einzelnen Sinnabschnitten Überschriften formulieren.
10. Übersetzen Sie die oben dargestellten Originalformulierungen von Freud in aktuelles, gekürztes und verständliches Schriftdeutsch. Begrenzen Sie sich dabei auf die Prozesse, die zwischen den Instanzen ablaufen.
11. Arbeiten Sie aus dem oben genannten Text die Dynamik, also das Geschehen zwischen den einzelnen Persönlichkeitsinstanzen in Form von Spiegelstrichsätzen heraus.
Arbeitsaufgabe:
12. In der Tafelanschrift "Der psychische Apparat nach Freud" sind zwei Fehler enthalten. Finden Sie heraus um welche Fehler es sich handelt. Und zeichnen Sie anschließend die Skizze richtig .
4. Die ICH-Schwächen
In einer gesunden Persönlichkeit entstehen immer wieder vernünftige Kompromisse zwischen den Wünschen und Bestrebungen der drei Persönlichkeitsinstanzen. Im Alltagsleben, in der Therapie aber auch der Erziehung ist immer wieder zu beobachten, dass die Persönlichkeitsinstanz ICH verschiedenartig schwach funktioniert.
4.1 Die ES-Dominanz
Das ICH wird vom ES dann besiegt, wenn das ÜBER-ICH zu schwach ist und sich deshalb das ES mit seinen Ansprüchen und seinen Lustbefriedigungswünschen, die das ÜBER-ICH zwar verbieten möchte, aber es nicht kann, gegenüber dem ICH durchsetzt.
Beispiel: Ein Schüler einer gymnasialen Oberstufe hat durch das Zeugnis Kenntnis von drei Defiziten erhalten. Das ÜBER-ICH und die Realität verlangen von ihm, einen Zeitplan zu erstellen, nach dem täglich besonders an den defizitären Fächern zu Hause gearbeitet wird. Das Realitätsprinzip, hier vertreten durch einen Lehrer, der einen Stundenplan vorschlägt, verlangt den Verzicht auf Computer und ICQ zumindest so lange, bis täglich zwei Stunden für die defizitären Fächer gearbeitet wurde. Ist der Wunsch nach einem Computer und Internet so stark, dass die vernünftigen Forderungen in den Wind geschrieben werden, so handelt es sich hierbei um eine ES-Dominanz. Die Befriedigung nach Entspannung soll jetzt und hier erfolgen.
4.2 Die ÜBER-ICH-Dominanz
Das ICH kann auch durch eine ÜBER-ICH-Dominanz besiegt werden. Dies geschieht dann, wenn das ÜBER-ICH, also das Gewissen zu stark ausgebildet ist. In diesem Fall kann das ICH sich gegenüber dem ÜBER-ICH nicht mehr behaupten. Die Wünsche und Bedürfnisse des ES, die das ÜBER-ICH verbietet, werden weitgehend unterdrückt.
Beispiel: Ein sehr ehrgeiziger Vater fordert von seiner Tochter vielfache Anstrengung und ein weit überdurchschnittliches Engagement für die Schule und weitere berufliche Zusatzqualifikationen. Durch die jahrelange Beeinflussung des ehrgeizigen Vaters ist ein zu stark ausgebildetes ÜBER-ICH bei der Tochter entstanden, bei jedweder freizeitlichen Aktivität entwickelt sich ein schlechtes Gewissen und die für die psychische Gesundheit notwendige psychische Entspannung fehlt gänzlich. Wenn dieser Prozess nicht unterbrochen wird, können psychische Erkrankungen durchaus Jahre später die Auswirkung des Übereifers des Vaters sein.
4.3 Die Realitäts-Dominanz
Das ICH wird vom Realitätsprinzip besiegt, es kann sich gegen die Forderungen der Realität nicht durchsetzen.
Auch hier handelt es sich um ein Ungleichgewicht zwischen den Persönlichkeitsinstanzen, berufliche Anforderungen, lassen sich mit den anderen Persönlichkeitsinstanzen nicht in Vereinbarung bringen. Das Gegenteil dieser ICH-Schwächen wird als ICH-Stärke bezeichnet. Bei einer ICH-Stärke ist immer ein gesundes Gleichgewicht zwischen den Instanzen und der Realität vorhanden.
Arbeitsaufgabe:
13. Fassen Sie die Möglichkeiten der ICH-Schwäche mit eigenen Worten schriftlich zusammen.
14. Erörtern Sie mögliche Konsequenzen aus den oben dargestellten ICH-Schwächen für die Erziehung. Gehen Sie dabei darauf ein, welche Erziehungsmittel für die Entstehung eines starken ICHs dienlich sind. Beschreiben Sie fehlerhafte Erzieherverhaltensweisen, die ein zu starkes ÜBER-ICH aufbauen können und weitere Verhaltensweisen, die ein zu starkes ES aufbauen können.
Erste Stichworte zur Lösung:
Mögliche Schlussfolgerungen aus den verschiedenen ICH-Schwächen für die Erziehung sind:
- Emotionale Zuwendung und Vermittlung von Reizen, empathische Verhaltensweisen sind Voraussetzung für die Entstehung eines starken ICH.
- Übertriebene moralische und ehrgeizige Erziehung können ein zu starkes ÜBER-ICH aufbauen. Dies geschieht z. B. beim autoritären oder beim versöhnenden Erziehungsstil. Je mehr Gebote und Verbote, je mehr Lenkung in der Erziehung vorhanden sind, desto stärker wird das ÜBER-ICH sich ausbilden.
- Erzieherverhalten, das entweder antiautoritär, uneinheitlich oder sogar vernachlässigend ist, führt zu einem zu schwachen ÜBER-ICH. Das ES wird verwöhnt und versucht maßlos, seine Bedürfnisse zu befriedigen.
Ein gesundes ICH ist zu erwarten, wenn die Wünsche des ES ernst genommen und zwar begrenzt aber doch angemessen befriedigt werden, wenn das Kind Freiräume für eigene Aktivitäten und Impulse hat, wenn das Kind ermutigt wird, eigene Urteilsfindungen zu formulieren. Das ICH wird darüber hinaus gefördert durch kognitive Anreize, Sprache, Intelligenz, Spiele, Übungen zur Bildung motorischer Möglichkeiten und dergleichen.
5. Freuds Angsttheorie
5.1 Angst als Begründung für die Abwehrmechanismen des ICHs
Das ICH sollte als Regisseur einer gut funktionierenden Persönlichkeit die Ansprüche von ES, ICH, ÜBER-ICH und Realität vernünftig miteinander verbinden. Entsteht jedoch das oben dargestellte Ungleichgewicht, so entstehen Ängste vor einer Gefährdung des psychischen Apparates. Dabei sind folgende Grundformen der Angst bekannt. Freud unterscheidet in seiner Theorie zwischen Real-Angst und der so genannten neurotischen Angst. Er betont die Vieldeutigkeit des Begriffes der mit Furcht und Schreck oft gekoppelt ist.
Merke: Angst wird als subjektiver Zustand definiert, der eng verbunden ist mit Gefühlen. Gefühle bzw. Affekte beinhalten motorische Aktionen, die Wahrnehmungen derselben und Empfindungen von Lust und Unlust.
Freud machte besonders die Affekte, die mit einem früheren bedeutungsvollen Erleben zusammen hängen zum Gegenstand seiner Forschungen. Jedes Angstgefühl erinnert an die Wiederholung der Geburt, so Freud. Die Enge des Geburtskanals, verbunden mit einer enormen Reizsteigerung während und nach der Geburt erzeugt Angst. Gleichzeitig vollzieht sich bei der Geburt auch die leibliche Trennung von der Mutter.
5. 2 Angst vor der Realität bzw. die Real-Angst
Die Real-Angst kann sich auf die Reaktion der Wahrnehmung einer äußeren Gefahr beziehen. Sie ist bei allen Menschen mit einem natürlichen Fluchtreflex verbunden und hat schützende Funktion. Die jeweilige Real-Angst wird jedoch beeinflusst durch Erfahrungen und kulturelle Rahmenbedingungen. Das ICH kann sich jedoch nicht nur vor irgendwelchen äußeren Gefahren fürchten, sondern vor Konsequenzen der Realität, die auf die Befriedigung von Wünschen folgt bzw. folgen würde. Hierzu gehört die Angst vor Bestrafung oder Verurteilung.
5. 3 Angst vor dem ÜBER-ICH
Das ICH hat Angst vor den Forderungen des ÜBER-ICH und entwickelt hieraus Schuldgefühle, Gewissensbisse und Selbstvorwürfe. In übersteigertem Maße kann es hierbei zu so genannten neurotischen, also krankhaften, Ängsten kommen. Allerdings ist nicht jede Angst vor dem ÜBER-ICH neurotisch. So kann eine Mensch, der eigentlich gerne fremdgehen möchte, aufgrund von moralischen Prinzipien und der Angst vor Gewissensbissen und Schuldgefühlen die Bewertung des ÜBER-ICHs als bedrohlich empfinden und deshalb nicht fremdgehen. Ängste werden neurotisch, wenn sie sich krankhaft und zwanghaft darstellen.
5. 4 Angst vor den Ansprüchen des ES
Das ICH fürchtet vor den Ansprüchen des ES überwältigt und sogar vernichtet zu werden. Dies kann besonders dann geschehen, wenn über eine gewisse Zeit die Bedürfnisse des ES immer verwirklicht wurden und nun typische Konsequenzen in der Schule oder am Arbeitsplatz wie schlechte Noten, Ärger mit dem Chef oder Vorgesetzten und dergleichen anstehen. Weitere Anforderungen des ES können nun mit Angst beantwortet werden. Die hier dargestellten Ängste haben die Aufgabe, das ICH vor Bedrohung und Zerstörung zu warnen. Das ICH reagiert mit ganz bestimmten Abwehraktionen bzw. Abwehrmechanismen. Die Impulse aus der Umwelt und den anderen Instanzen werden abgewehrt durch verschiedene Möglichkeiten. Dies führt uns nun zu dem Kapitel der Abwehrmechanisme
15. Stellen Sie die oben dargestellte Angsttheorie von Freud in Form eines Schaubildes dar.
6. Die Abwehrmechanismen
Das ICH hat verschiedene Schutzmaßnahmen, um bedrohende Impulse abzuwehren. Diese Maßnahmen werden von Freud als Abwehrmechanismus bezeichnet.
Merke: Abwehrmechanismen sind schützende Gegenmaßnahmen des ICHs, gegen die bedrohlichen und angstauslösenden Impulse, die vom ES, vom ÜBER-ICH und von der Realität auf das ICH einströmen. Diese Schutzmaßnahmen sollen diese gegnerischen Impulse ausschalten, unbewusst machen und somit drohende Ängste und Konflikte vermeiden bzw. reduzieren. Die Abwehr geschieht durch meist unbewusste Vorgänge, die schon in der Kindheit erlernt wurden und meist automatisch funktionieren. Es handelt sich später um verfestigte Gewohnheiten.
Nicht jeder Abwehrmechanismus ist krankhaft oder negativ zu sehen. Einige von ihnen sind lebenswichtige Schutzfunktionen und können sogar zur Bewältigung des Alltages – zumindest für eine gewisse Zeit – dienen.
6.1 Verdrängung
Die Verdrängung ist der erste Abwehrmechanismus, der von Freud entdeckt wurde. Angstmachende Impulse wie Triebwünsche, Sehnsüchte, Wünsche, Erinnerungen usw. werden von dem Menschen, wenn er sie nicht wahrhaben will oder kann ins Unbewusste abgeschoben. Diese Verschiebung kann aber nicht endgültig sein. Verdrängung bedeutet nicht auslöschen, die verdrängten Inhalte bleiben im Unbewussten weiter bestehen und ihre Energie versucht wieder hervorzukommen und sichtbar zu werden. Dies kann auf jeden Fall das Erleben und Verhalten in nicht unerheblichem Maße beeinflussen.
Beispiel: Der übergewichtige Thomas hat Angst vor dem Wunsch, Süßigkeiten zu naschen. Er selbst und seine Freunde haben ihn mehrfach aufgefordert, abzunehmen und gesünder Nahrung aufzunehmen. Er wird möglicherweise versuchen, das Süßigkeitsverlangen abzuwehren, unbewusst zu machen, den Wunsch zu verdrängen.
Freud schreibt zur Verdrängung: „Sie ist etwas ganz besonderes. Ein Grundpfeiler der Psychoanalyse. Das ICH zeigt die oben genannten Konflikte mit Angst an. Die Verdrängung ist jener Vorgang, durch welchen ein bewusstseinsfähiger Akt, also einer, der dem System bewusstseinsfähige Unbewusste angehört, unbewusst gemacht wird, also in das System Unbewusstes zurück geschoben wird. Und ebenso nennen wir es Verdrängung, wenn der unbewusste seelische Akt überhaupt nicht ins nächste vorbewusste System zugelassen, sondern an der Schwelle von der Zensur zurück gewiesen wird.“
Arbeitsaufgabe:
16. Erläutern Sie das oben dargestellte Schaubild zur Verdrängung. Arbeiten Sie dazu vorher die Ihnen eventuell unbekannten Fachbegriffe aus einem Fremdwörter- oder Fachlexikon heraus.
6.2 Verschiebung
Wünsche, Bedürfnisse, also ES-orientierte Impulse, die sich nicht am Original befriedigen können, werden an einem Ersatzobjekt realisiert. Hier geht es um die Verschiebung eines emotionalen Impulses, eines Affektes von einer psychischen Vorstellung auf die andere.
Beispiel 1: Ein 19-jähriger möchte gerne mit einer Mitschülerin eine partnerschaftliche Beziehung aufbauen. Diese zeigt ihm jedoch permanent die rote Karte. Aus Frust und Enttäuschung kommt er nach Hause und er benutzt Pornos und sexuelle Filme und Geschichten als Ersatzobjekte für sein Bedürfnis, das er nicht am Original verwirklichen durfte.
Beispiel 2: Ein Beamter hat Ärger mit seinem Amtsleiter und kommt deshalb nach Hause und meckert wütend über das Essen und schimpft wegen geringfügiger Dinge mit seinen Kindern. Diese wiederum ärgern schließlich den Hund…
Die Auswirkung davon ist, dass der Mann zwar seine Wut heraus gelassen hat, den Konflikt mit seinem Amtsleiter jedoch nicht gelöst hat. Sein Privatleben ist durch diese Verschiebung auch nicht besser geworden.
6. 3 Sublimierung
Nicht zugelassene Triebansprüche wie Wünsche und Bedürfnisse, die vom ES kommen, werden umgesetzt in Leistungen, die sozial akzeptiert bzw. hoch erwünscht sind. So können sexuelle Wünsche oder aggressive Impulse vom ICH unterdrückt werden bzw. sie werden auf sozial- und kulturell höher stehende Ziele umgelenkt. So können besonders berufliche Wünsche eine Sublimierung innerer Impulse sein. Aus Sicht der Psychoanalyse wäre es also denkbar, dass aggressive Triebimpulse zur Berufswahl eines Chirurgen oder in anderen Ländern und Zeiten eines Scharfrichters werden können.
Sexuelle Impulse könnten somit in Form von Tanzkunst umgesetzt werden und besonders der Sport eignet sich für die Sublimierung beispielsweise aggressiver Impulse in Form von Boxen, Fußball und ähnlichem.
6.4 Projektion
Hier werden einem anderen Menschen eigene Impulse aus den verschiedenen Instanzen zugeschrieben. Aspekte der eigenen Persönlichkeit werden einem anderen Menschen oder einem anderen Objekt zugedichtet bzw. unterstellt. Dabei ist derjenige, der projiziert fest davon überzeugt, dass sein Gegenüber genau so der Realität entspricht wie er es wahrnimmt. Die Projektion währt Angst und Scham ab und dient der Aufrechterhaltung des Selbstverständnisses über seine eigene Person. Die Fachliteratur unterscheidet in idealische und in Schattenprojektion.
6.4.1 Idealische Projektion
Bei der idealischen Projektion werden Wunschvorstellungen anderen Menschen zugeschrieben, um sich dadurch selber wichtiger zu nehmen.
Beispiel: Ein ehemals in der Schule wenig erfolgreicher Vater versucht, seine Tochter nicht nur durchs Abitur zu drängen sondern zu einer akademischen Laufbahn zu manipulieren, die ihm selbst immer verwährt war. Dies muss kein Problem für die Familie sein, wenn die Tochter die entsprechende Begabung und den eigenen Wunsch eine solche Karriere zu machen, hat. Wenn die Wünsche der Tochter und die des Vaters kongruent sind, wird es keine Probleme geben. Bei einer Inkongruenz jedoch wird die Tochter so lange leiden, bis sie sich gegenüber dem Vater emanzipiert und ihm Grenzen setzt. Aussprüche wie: „Vater, ich möchte mein Leben selber entscheiden und bestimmen, ich suche den Ausbildungsweg, den ich persönlich mir wünsche“, helfen der Tochter, einen emanzipierten eigenen Lebensweg zu gehen.
6.4.2 Schattenprojektion
Eigenschaften und unannehmbare Wunschvorstellungen (Phantasien), die die eigene Person betreffen, die man aber an sich selbst nicht wahrhaben kann bzw. will, werden anderen zugeschrieben, weil sie dort besser bekämpft werden können. (Zum Beispiel: „Nicht ich bin schwul, sondern mein Gegenüber.“) Diese Projektion kann sich auf Individuen, Personengruppen und auch Gegenstände beziehen. Diese Projektionen können sich oft kollektiv auf Menschen, Gruppen beziehen. Die Ausländerfeindlichkeit heutzutage ist ein schlimmes Beispiel dafür.
Beispiele für die Schattenprojektion:
- Schüler, die in einigen Schulfächern schlecht sind und dies nicht auf ihre eigene Faulheit zurück führen wollen, neigen oft dazu, den entsprechenden Fachlehrer für schlecht zu halten;
- Angst vor geschlechtlichen Regungen bezüglich der Vertreter des eigenen Geschlechtes können bewirken, dass man besonders hasserfüllt anderen Menschen Homosexualität unterstellt und deshalb stark bekämpft;
- Ein Mensch, der unbewusst den Wunsch hat, seinen Partner zu betrügen, ist im besonderen Maße misstrauisch und ohne Vertrauen bezüglich dessen Treue.
In diesen Beispielen wird deutlich, dass das Fehlverhalten von sich weggelenkt wird, nach außen hin verlagert wird, und man somit seinen eigenen Schuldgefühlen entgehen kann. Das Fehlverhalten kann man dann gut bei den anderen bestrafen.
In der Fachzeitung "Psychologie Heute Compact" lesen wir zum Thema Projektion: „Schon in biblischer Zeit scheint heftig projiziert worden zu sein: Jesus tadelte die Heuchler, die den Splitter im Auge der Nächsten bekritteln, aber den Balken im eigenen Auge bemerken wollen. Die Abwehr durch Projektion besteht darin, dass man einen Charakterdefekt oder einen Fehler weit von sich weist und ihn bei anderen entdeckt. Klassische Beispiele: Ein Geizkragen bemäkelt die Knauserigkeit der anderen. Der untreue Ehemann misstraut seiner Gattin. Heterosexuelle Männer ziehen auffällig aggressiv über Schwule her und betonen mit Macho-Sprüchen ihre Distanz zu den Homos - die Projektionstheorie sagt, um eigene homophile Neigungen zu überspielen. Projektion ist häufig im Spiel, wenn Minderheiten von Mehrheiten ausgegrenzt werden.“
6. 5 Identifizierung bzw. Identifikation
Die Abwehr von Angst gelingt bei der Identifizierung durch die Übernahme von Normen und Wertvorstellungen einer anderen Person, z. B. eine starke Persönlichkeit wie eine Elternfigur oder von Idolen wie Sänger, Musiker und dergleichen. Diese Identifizierung dient der Herausbildung der kindlichen Persönlichkeit. Freuds Auffassung postuliert zum Aspekt Identifizierung, dass ein Kind eine aus verschiedenen Gründen nicht mehr lebbare Liebesbeziehung mit einer Elternfigur dadurch zu bewältigen versucht, indem es sich unbewusst mit für sich selbst wichtige Eigenschaften von Vater und Mutter identifiziert und auf diese Weise die Liebesbeziehung in sich festhält. Die Identifizierung mit besonders starken Persönlichkeiten kann z. B. dem Kind helfen, Angst in der Dunkelheit zu überwinden. Denn Supermann hat schließlich vor Dunkelheit keine Angst.
6.6 Fixierung und Regression
Bei der Fixierung, also dem Stehenbleiben auf bestimmte frühkindliche Entwicklungsphasen und der Regression, also dem Zurückfallen auf vorangegangene Entwicklungsstände, handelt es sich ebenfalls um Abwehrmechanismen. Bei der Regression ist das Ziel, den Ansprüchen des ÜBER-ICHs zu entgehen. So kann das plötzliche Einnässen eines siebenjährigen Kindes ein Zurückfallen auf vorhergegangene Lebensphasen, also eine Regression, darstellen. Es kann aber auch ein Symptom von sexuellem Missbrauch sein. Hier gilt es mit großer therapeutischer und erzieherischer Feinfühligkeit die Ursachen dieser Regression heraus zu finden. Das Zurückfallen auf Verhaltensweise früherer Entwicklungsphasen, also die Regression, lässt sich oft auch bei erwachsenen Menschen beobachten, wenn sie sich im Karneval, im Urlaub, im Ausland und in der Interaktion mit kleinen Kindern befinden. Auch der AlkoholEinfluss kann Regression ermöglichen.
6.7 Konversion
Die Konversion ist die Umwandlung verdrängter Triebe oder Erlebnisse in körperliche Symptome
Die Abwehrstrategien des ICHs können sich auch in Form von Konversionen, d. h. konflikthafte verdrängte Vorstellungen in einem körperlichen Bereich darstellen. Diese Konversionserscheinungen äußern sich in psychosomatischen Symptomen wie Lähmungen, Schmerzen und Magenproblemen. Freud bezeichnet die Konversion als eine typische neurotische Verarbeitungsweise der Hysterie.
6.8 Rationalisierung
Unter dem Begriff Rationalisierung versteht man die Rechtfertigung einer Handlung verpönter Wünsche und Bedürfnisse sowie unangepasste Verhaltensweisen mit nachträglichen Scheinbegründungen. Diese Fehler werden verstandesmäßig mit scheinbar vernünftigen Gründen gerechtfertigt, um die wahren Gründe, die man nicht wahrhaben kann oder will, zu verheimlichen. Der einzelne Mensch versucht also Lücken und Brüche im individuellen Begründungszusammenhang, z. B. für eine Handlung oder ein Ereignis, zu glätten; diese Operation geht auf unbewusste Handlungsmotive zurück. Die Rationalisierung ist nicht direkt gegen die Triebbefriedigung gerichtet, sondern verschleiert eher die verschiedenen Elemente des Abwehrkonfliktes. Sie stellt daher keinen Abwehrmechanismus im ursprünglichen engeren Sinne dar.
Beispiele:
- Der strafende, ohrfeigende Vater, der der Meinung ist, dass ein paar Ohrfeigen noch keinem geschadet haben;
- Der Schüler, der in einer Prüfung schlecht abgeschnitten hat und nun der Meinung ist, der Unterricht sei schlecht gewesen, bzw. er selbst in keiner guten Verfassung;
- Fehler in der Erziehung werden mit den Erbanlagen des Kindes begründet;
- Ein machtbesessener Politiker findet immer Gründe, aufzurüsten und neue Raketen zu bauen.
6. 9 Verleugnung
Die Verleugnung von Informationen bzw. angstauslösenden Impulsen besteht in der Negierung , also des Nicht-Wahrnehmen-Wollens von traumatisierenden Wahrnehmungen. Zur Verleugnung gehört das Prinzip, dass Menschen den Kopf in den Sand stecken, um einen Teil der äußeren Realität, die Angst macht, gar nicht erst wahr zu nehmen. Dieses Phänomen finden oftmals Schuldnerberater im Umgang mit völlig verschuldeten Menschen. Obwohl sie die kognitiven Fähigkeiten haben, Rechnungen zu sortieren, zu ordnen und entsprechende Briefe und Bitten um eine Ratenzahlung zu formulieren, ist die Verleugnung und das zwanghafte Kopf in den Sand stecken so stark, dass sich oft über Jahre hinweg nicht um die Schulden gekümmert wird und diese sich enorm aufhäufen.
6. 10 Reaktionsbildung
Die Reaktionsbildung richtet sich gegen einen nicht akzeptierten Impuls, Wunsch, Bedürfnis sowie gegen unangepasste Verhaltensweisen. Diese Impulse werden um die Verdrängung zu sichern, in das Gegenteil umgekehrt, d. h. dass bei der Reaktionsbildung Verhaltensweisen entwickelt werden, die dem ursprünglichen verdrängten Triebwunsch des ES völlig entgegen gesetzt sind und in stark übersteigerter Form auftreten. So wird zum Beispiel eine ursprüngliche Lust und Verliebtheit in Hass umgewandelt. Voraussetzung dafür ist eine besonders starke Drohung des primären Impulses durch Ängste oder ein besonders strenges ÜBER-ICH. Dem strengen ÜBER-ICH reicht die bloße Verdrängung nicht, die Triebimpulse müssen in sozial anerkannte Verhaltensweisen umgekehrt werden. So ist es durchaus möglich, dass ein gleichgeschlechtlicher sexueller Impuls Männer dazu bringt, in besonders ausgeprägter Macho-Art rigoros gegen Schwule vorzugehen.
6. 11 Intellektualisierung
Die Intellektualisierung ist nach der Psychoanalyse ein typischer Abwehrmechanismus in der Adoleszenz, also der Pubertät. Mit ihr geht einher eine enthaltsame Einstellung zur Abwehr der durch körperliche Reifungsprozesse verstärkten aggressiven und sexuellen Impulse. Die Intellektualisierung ist die forcierte intellektuelle abstrakte Beschäftigung von Jugendlichen mit Themen der Liebe und dem Sinn des Lebens, um aktuelle Triebkonflikte zu bewältigen. Der Abwehrmechanismus Intellektualisierung kann aber auch bei anderen Menschen gefunden werden. Die so genannten Ausreden, anhand derer mit viel Worten und scheinbarer Schläue Fehlverhalten entschuldigt wird, ist in den Bereich Rationalisierung bzw. Intellektualisierung einzuordnen.
6.12 Widerstand
Der Mensch wehrt sich im Allgemeinen gegen das Aufdecken verdrängter Wünsche, Sehnsüchte und traumatischer Erfahrungen. Die verdrängten Inhalte und Vorgänge sollen nicht ins Bewusstsein geraten, da sie sonst das Bewusstsein und das ICH gefährden. Dies ist eines der häufigsten Themen in der psychoanalytischen Therapie.
Arbeitsaufgaben:
17. Erstellen Sie zu jedem oben dargestellten Verdrängungsmechanismen jeweils eine kurze Definition.
18. Erstellen Sie ein eigenes Fallbeispiel, in dem möglichst viele Abwehrmechanismen dargestellt werden.
7. Die psychoanalytische Trieblehre
Während die Lehre vom Unbewussten, vom Widerstand und der Verdrängung zum psychologischen Teil der Psychoanalyse gezählt werden kann, versuchte Freud mit der Trieblehre ein sicheres biologisches Fundament zu schaffen. Die Psychoanalyse geht von der Annahme aus, dass alles Verhalten durch Triebe erzeugt wird. Die Lehre von den Trieben war für Freud „das wichtigste wie das dunkelste Element der psychologischen Forschung“
Definition: Im psychoanalytischem Sinn wird der Begriff Trieb als eine psychische Kraft angesehen, die darauf ausgerichtet ist, Bedürfnisse zu befriedigen. Durch den Trieb wird menschliches Erleben und Verhalten aktiviert und gesteuert. 1915 führte Freud zur Bestimmung des Triebbegriffs die Merkmale Quelle, Ziel, Objekt und Drang ein.
Unter Quelle versteht Freud einen körperlichen Vorgang in einem Organ oder Körperteil. Wichtiger als die Quelle, deren weitere Erforschung er nicht für notwendig hielt, war für ihn das Ziel.
Das Ziel ist immer die Befriedigung, die durch Aufhebung des Reizzustandes an der Triebquelle erreicht wird.
Unter Objekt versteht Freud das, woran sich die Triebhandlung vollzieht. Das können Personen, aber auch Körperteile oder auch Kleidungsstücke, so genannte Partialobjekte sein. Ausschlaggebend ist, wie gut es sich zur Triebbefriedigung eignet.
Den Drang schließlich interpretiert Freud als ein motorisches Element. Bezogen auf den Sexualtrieb wird der Drang als Libido, lat. Drang, Begierde, bezeichnet, als eine Energie, zunächst nur im physischen Sinne ähnlich wie der Hunger. Die psychische Seite der Libido berücksichtigt Freud, indem er den Begriff der Trieb-Präsentanz einführt. Dieser gliedert sich in Vorstellungen und Affekte. Beide können unabhängig voneinander existieren.
Arbeitsaufgabe:
19. Erstellen Sie eine kleine Mind-Map zum Begriff Trieb und den oben daraus resultierenden Merkmalen.
20. Erstellen Sie selbständig ein Schaubild mit Kästen und Pfeilen, indem folgender Sachverhalt zeichnerisch dargestellt wird: „Die Triebquelle ist die Voraussetzung für den Trieb, den Wunsch und das Bedürfnis. Diese drei sind gerichtet auf ein Triebziel und ein Triebobjekt.“
7. 1 Eros und Thanatos
Die Psychoanalyse geht davon aus, dass das menschliche Leben durch zwei sich gegenüber stehende Triebe darstellt. Es handelt sich hierbei um das dritte Modell, das Sigmund Freud im Jahre 1920 bezüglich der Triebe dargestellt hat. Der Lebenstrieb (= Eros), dessen Energie mit Libido bezeichnet wird, steht dem Todestrieb (= Thanatos), dessen Energie Destrodo genannt wird, gegenüber. Libido ist die Kraftäußerung des Eros, bzw. die Energie, die Selbsterhaltungskraft und die Kraftäußerung des Thanatos, also des Todestriebs strebt nach Auflösung und Zerstörung. Der Lebenstrieb hat das Ziel der Selbst- und Arterhaltung. Seine psychischen Energien, also die Libido, ist auf Lustgewinn gerichtet und kann sowohl auf die eigene Person wie z. B. das Verliebtsein in seinen eigenen Körper enthalten. Die Ausrichtung der Libido auf andere Personen und Gegenstände bezeichnet die Psychoanalyse als Objektbesetzung.
Der Todestrieb steht dem Lebenstrieb entgegen und hat die Zerstörung und die Zurückführung des Lebens in den anorganischen Zustand und somit dessen Vernichtung zum Ziel. Der Todestrieb ist ein elementares Erklärungsmodell für Aggression und Gewalt. Unter Aggression versteht man reale oder phantasierte Verhaltensweisen, die darauf abzielen, den anderen oder sich selbst zu schädigen, zu demütigen, zu zwingen, zu vernichten. Die Aggression kennt aber nicht nur heftige und zerstörerische motorische Aktionen. In jedem Handeln des Todestriebs liegt aggressives Potential. Die Psychoanalyse hat der Aggression eine wachsende Bedeutung eingeräumt, indem sie ihre Wirkung schon in der frühen Entwicklung des Menschen aufzeigt und ihre Mischung mit der Sexualität betonte. Der Satz: „Ich habe Dich zum Fressen gerne!“ ist hierfür ein Beispiel.
Arbeitsaufgaben:
21. Erstellen Sie jeweils ein kleines Schaubild bzw. eine Mind-Map mit Kästen, Bezeichnungen und Pfeilen a) für den Sexualtrieb und deren Merkmale (Quelle, Ziel, Objekt, Drang) und dasselbe für den Aggressionstrieb. Ordnen Sie den jeweiligen Merkmalen, wie Quelle, Ziel, Objekt und Drang passende Aspekte zu.
8. Die Entwicklung der Libido bzw. der Triebe in Phasen
Übersicht:
1. Die orale Phase (1. Lebensjahr)
2. Die anale Phase (2. – 3. Lebensjahr)
3. Die phallische Phase (3. bzw. 4. – 5. bzw. 6. Lebensjahr)
4. Die Latenzperiode vom 6. bis etwa 12. Lebensjahr
5. Die genitale Phase etwa ab dem 12. Lebensjahr
Freuds Phasen der Libido- bzw. Triebentwicklung
Sigmund Freuds Modell der psycho-sexuellen Entwicklung des Menschen geht davon aus, dass die Sexualität eine wichtige Größe in der menschlichen Entwicklung darstellt. Dabei ist zu Bedenken, dass Freud die Sexualität loslöst von einem zu engen Bezug auf Genitalien und definiert ebenfalls Zärtlichkeit als Teil der kindlichen Sexualität. In Freuds Entwicklungsphasen stehen unterschiedliche Körperteile bzw. Körperregionen im Vordergrund. Dies sind Mundschleimhaut, Afterregion und die Genitalien. Die jeweiligen Triebe, die von diesen sexuell leicht erregbaren Zonen ausgehen, nennt die Psychoanalyse Partialtriebe bzw. Teiltriebe.
8.1 Die orale Phase (1. Lebensjahr)
Der erste Lustgewinn im Leben eines Menschen kann überwiegend durch die Mundzone und durch alles, was mit ihr unmittelbar im Zusammenhang steht, durch Reizung der Mundschleimhaut und der Lippen, empfunden werden. Saugen, Schlucken, Lutschen, Essen, Trinken, Kauen, Beißen, das Aufnehmen von Nahrung, Spucken und dergleichen sind die frühesten Äußerungsformen kindlichen Luststrebens. Die Liebesbeziehung zur Mutter wird durch Einverleiben und Gegessenwerden gekennzeichnet. Die empfundene Lust hat zur Folge, dass das Erlebnis der Befriedigung wiederholt gesucht wird. Es wird nicht nur an Mutter und der Flasche gesaugt, sondern am Schnuller, Daumen und Tuch. Sind die Umwelterfahrungen des Kindes in diesem ersten Lebensjahr positiv, so entsteht eine offene freundliche Persönlichkeit, die optimistisch in die Zukunft schaut. Negative Erfahrungen wie Überfüttern, ängstliche Überbehütung oder Vernachlässigung können für mangelndes grundsätzliches Vertrauen in andere Menschen, depressive Neurosen, Lernhemmungen, später sogar zu exzessiven Trink- und Gewaltverhaltensweisen führen.
Fortsetzung folgt mit den Aspekten, weitere Darstellungen der Entwicklungsphasen, Darstellungen der Folgerungen für die Erziehung gemäß den Entwicklungsphasen, die kritische Würdigung einschließlich der Kritiken, und den Aspekten, die die moderne Hirnforschung aktuell zu Freuds Theorien sagt.
Die Triebbefriedigung im ersten Lebensjahr erfolgt meist durch Berühren mit der Mundschleimhaut, Saugen, Lutschen, Trinken, Kaufen, alles, was mit dem Mund möglich ist. Freud beschreibt die Beziehung zur Mutter als dominiert durch Einverleiben und Gegessen werden. Die empfundene Lust hat zur Folge, dass das Erlebnis der Befriedigung wiederholt gesucht wird. Störungen in dieser Lebensphase können durch übermäßiges Verwöhnen oder durch Vernachlässigung, also durch Versagen, Enthaltung der Triebbefriedigung entstehen. Das Versagen bzw. die Versagung besteht durch zu späte Nahrungsanreichung, gefühlsmäßiges Unbeteiligtsein oder ein zu zwanghafter, nach der Uhr dominierter Zeitplan bezüglich des Stillens. Das Gegenteil der Versagung ist die Verwöhnung, also ein Überfüttern und ein übertrieben ängstliches Umsorgen. Auswirkungen bei Versagung können laut Psychoanalyse depressive Neurosen, Lernhemmungen, Alkoholismus, Suchtneigung in den verschiedensten Formen, Bereitschaft zur Gewalt und dergleichen sein.
8.1.1 Anna Freud, eine Tochter von Sigmund Freud, schreibt zur oralen Phase:
„In den ersten Lebenswochen spielt die Ernährung des Kindes die wichtigste Rolle in seinem Leben: Zu dieser Zeit ist der Mund und die ihn umgebende Zone für ihn der wichtigste Teil seines Körpers. Das Saugen an der Mutterbrust und das Einfließen der Nahrung in den Mund ist dem Kind angenehm und der Wunsch nach der Fortsetzung und Wiederholung dieser lustvollen Empfindung bleibt in ihm bestehen, auch wenn es gesättigt ist. Es versteht bald, sie sich unabhängig von der Nahrungsaufnahme, auch unabhängig von der ihn Nährenden durch Saugen am eigenen Finger wieder zu verschaffen. Wir sagen, dass Kind „lutscht“. Sein Gesicht zeigt bei dieser Beschäftigung den gleichen befriedigten Ausdruck wie beim Saugen an der Brust, so dass man sich über das Motiv dieser Lutschtätigkeit niemals im Unklaren war. Man sieht: Das Kind lutscht zum Vergnügen. Der Lustgewinn am Saugen, der früher nur ein Nebengewinn bei der Nahrungsaufnahme war, hat sich selbständig gemacht und ist zu einer vom Kind bevorzugten, von den Erwachsenen beanstandeten Tätigkeit, einer Unart des Kindes, geworden. Dabei beschränkt sich die Lust bringende Tätigkeit des Mundes zu dieser Zeit gar nicht auf die Nahrungsaufnahme und das Lutschen. Das Kind benimmt sich, als wollte es die ganze ihm erreichbare Welt mit dem Mund kennen lernen. Es beißt, beleckt und kostet alle ihm erreichbaren Gegenstände. (…) Diese bevorzugte Rolle des Mundes als Quelle lustvoller Empfindungen erhält sich ungefähr das ganze erste Lebensjahr. Wenn sie an unsere Aufzählung der „Anklagen“ gegen das Kind zurückdenken, so werden Sie darin auch noch Unarten enthalten finden, die zwar hier ihren Ausgangspunkt haben, aber noch weit in das spätere Alter hinein reichen: Ich meine die Naschhaftigkeit und die Gefräßigkeit.“
8. 2 Die anale Phase (2. – 3. Lebensjahr)
Wie der Name dieser Phase schon vermuten lässt, ist die vorherrschende Körperregion, aus der das Kind Lustgewinn ableiten kann, nun die Afterregion. Damit sind die Ausscheidungsorgane, das Ausscheiden und das Ausscheidungsprodukt gemeint. Erlebnisse der Lust bzw. Unlust und teilweise sogar des Schmerzes entstehen durch die Entleerung des Darms sowie durch das teilweise schmerzhafte aber auch teilweise lustvolle Zurückhalten des Kots. Psychoanalytiker gehen davon aus, dass durch den spielerischen Umgang mit dem Ausscheiden von Kot der Thematik des Hergebens und Zurückhaltens das spätere Verhalten bezüglich Großzügigkeit und Geiz entscheidend geprägt wird. Das Kind sieht seine Ausscheidungen als Teil des eigenen Körpers und ist stolz auf diese Leistung, dort etwas produziert zu haben. In dieser Situation wäre es völlig falsch, wenn Eltern den leider allzu oft formulierten Spruch „Bah, das ist fies!“ ihrem Kind entgegen werfen würden. Freud geht davon aus, dass wenn das Kind die Erfahrung macht, dass das Hergeben des Kots oder auch Stuhls Freude bereitet, es dann später ebenfalls gerne gibt. Bei der gegenteiligen Erfahrung würde es starke Tendenzen der Verweigerung so auch z. B. Leistungswiderstand geben.
8. 2. 1 Das ICH in der analen Phase
Das ICH wird vornehmlich in der analen Phase durch die Auseinandersetzung mit der Realität ausgebildet. Die Beziehung zum ICH, das Bewusstwerden der eigenen Person, wird durch die Auseinandersetzung mit der Realität geben, zurückhalten, usw. aufgebaut. Das Erzieherverhalten ist in dieser Phase besonders wichtig, da sich hier Selbständigkeit, Eigenwillen, Unselbständigkeit, übertriebener Gehorsam, übertriebene Ordnung und Penibilität bzw. Pingeligkeit durch die lustvollen oder frustrierenden Erlebnisse herausbilden kann.
Anna Freud
8.2. 2 Anna Freud schreibt zur analen Phase:
„Auch die nächste Körperzone, die in den Vordergrund tritt, um den Mund in seiner Bedeutung abzulösen, wird durch Erlebnisse von außen her mitbestimmt. Bisher hatte die erwachsene Welt sich dem Kind gegenüber tolerant verhalten, sich tatsächlich fast ganz auf seine Pflege beschränkt und als einzige Ausnahme nur eine gewisse Gewöhnung an Ordnung und Regelmäßigkeit in Nahrungsaufnahme und Schlafzeiten gefordert. Jetzt tritt allmählich ein sehr wichtiger Faktor in das Leben des Kindes ein: Die Erziehung zur Reinlichkeit. Die Mutter oder Pflegerin des Kindes bemüht sich, ihm das Nässen und Beschmutzen abzugewöhnen. Das Kind ist nicht leicht zu einer Beherrschung dieser Funktionen zu bringen, man könnte sagen, das ganze zweite Lebensjahr steht unter dem Zeichen dieser oft sehr energischen Bemühungen von Seiten der Erziehung. Aber Sie meinen, man hätte wirklich kein Recht, dem Kind die lange Zeitdauer, die das Reinwerden in Anspruch nimmt, als Unart vorzuhalten. Seine Schließmuskeln seien eben noch nicht so weit entwickelt, dass es seinen Harn zurück halten und seinen Stuhlgang regulieren kann. Das stimmt sicher für die erste Zeit der Reinlichkeitserziehung. Später wird der Eindruck ein anderer.
Bei näherem Zusehen kommt man auf die Vermutung, dass das Kind nicht mehr unfähig ist, sich sauber zu halten, sondern dass es nur sein Recht darauf verteidigt, seinen Stuhl eben dann abzusetzen, wenn es ihm selber gefällt, und das es sich überhaupt sein Besitzerrecht an diesem Erzeugnis seines eigenen Körpers nicht nehmen lassen will. Es zeigt ein auffälliges Interesse für seinen eigenen Kot; es versucht, ihn zu berühren, mit ihm zu spielen, ja, wenn es nicht rechtzeitig daran gehindert wird, ihn sogar in den Mund zu stecken. Auch hier können wir wieder aus seinem Gesichtsausdruck und dem Eifer, den es bei solcher Beschäftigung zeigt, ohne Schwierigkeit das Motiv der Tätigkeit erraten. Sie macht dem Kind offenbares Vergnügen, ist lustvoll. Diese Lust aber hat nichts mehr mit der Schwäche oder Stärkung der Schließmuskeln von Blase oder After zu tun. So wie der Säugling bei seiner Nahrungsaufnahme als Nebengewinn eine Lust an der Mundgegend verspürt hat, so zeigt sich hier als Nebengewinn bei der Exkretionstätigkeit eine Lust, die das Kind am After empfindet.
Die Gegend um den After wird ihm zu dieser Zeit zur wichtigsten Körperzone. Wie es sich im Lutschen die Mundlust unabhängig von der Ernährung immer wieder selbst zu verschaffen versuchte, so versucht es hier durch das Zurückhalten des Kotes und durch Spielen an dieser Körpergegend das gleiche. Und wenn es von der Erziehung ganz energisch daran gehindert wird, so gelingt es ihm doch wenigstens in dem erlaubteren Spiel mit Sand, Wasser, Straßenkot oder in dem späteren „Schmieren“ mit Farben, die Erinnerung an das einmal sehr hoch geschätzte Vergnügen festzuhalten.
Die Anklagen der Erwachsenen gegen das Kind behaupten, dass es zu dieser Zeit schmutzig und unappetitlich ist. Gleichzeitig mit diesen Klagen aber war man immer geneigt, das Kind zu entschuldigen: Es sei eben noch klein und dumm, sein ästhetisches Gefühl eben noch nicht so fein ausgebildet, dass es den Unterschied zwischen sauber und schmutzig richtig verstehen könne oder sein Geruchssinn noch zu ungeübt, um die richtigen Unterscheidungen zwischen Duft und Gestank zu treffen. Ich meine, die Beobachter des Kindes haben sich hier in einem von Vorurteilen bedingten Irrtum befunden. Wer immer ein kleines Kind, etwa um das zweite Lebensjahr, aufmerksam beobachtet, wird merken müssen, dass seine Unterscheidung für Gerüche durchaus korrekt ist. Der Unterschied gegen den Erwachsenen liegt hier nur in der Wertung. Der Duft irgendeiner Blume, der den Erwachsenen begeistert, lässt das Kind gleichgültig, wenn man es nicht durch längere Zeit hindurch daran gewöhnt, an einer Blume riechend „Aaaah“ zu sagen.“
Arbeitsaufgabe:
22. Fassen Sie die Darstellungen von Anna Freud zur oralen Phase und zur analen Phase gekürzt mit eigenen Worten zusammen. Vergleichen Sie diese Darstellungen mit den Erlebnissen in ihrem Bekanntenkreis. Fragen Sie ihre Eltern, ob die von Anna Freud beschriebenen Phänomene in ihrer Kindheit zu beobachten waren. Vergleichen Sie.
8. 3 Die phallische Phase (ca. 3./4 bis ca. 5/6. Lebensjahr)
In der phallischen Phase verlagert sich das Lustinteresse von der analen Körperregion hin zu den Genitalien. Laut Freud äußern sich die Triebwünsche in der phallischen Phase durch Herzeigen eigener Geschlechtsteile, durch das Spielen mit denselben, und das Betrachten bei den anderen Kindern. In diese phallische Phase sind auch die psychoanalytischen Begriffe Penisneid und Ödipus-Konflikt einzuordnen.
8. 3. 1. Kastrationsangst – Penisneid
Freud geht davon aus, dass Kinder zu der Meinung kommen, dass dem Mädchen etwas fehle bzw. seinen Penis verloren habe. Das Mädchen, das seine Penislosigkeit erkennt – so Freud – glaubt nun, dass es unvollständig und minderwertig sei. Diese Vorstellung mit Frust gepaart nennt Sigmund Freud den Penisneid. Es ist die Ursache für das Gefühl der Unterlegenheit und Minderwertigkeitsgefühle der Frau gegenüber dem Mann. An späterer Stelle wird deutliche gezeigt, dass gerade diese Vorstellungen sehr kritisiert werden, unter anderem auch von der heute noch lebenden Enkelin von Sigmund Freud, die in den USA Psychologie lehrt.
Darüber hinaus geht Freud davon aus, dass die Triebwünsche in der phallischen Phase sich auf das gegengeschlechtliche Elternteil beziehen. Aus diesem Begehren heraus entsteht ein Konflikt und eine Frustsituation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, das Sigmund Freud nach der Tragödie des Ödipus bezeichnet hat.
Merke: Der Ödipus-Konflikt bezeichnet in der Psychoanalyse die Liebes- und Hassempfindungen, die ein Kind im 4. und 5. Lebensjahr gegenüber seinen Eltern hat. Er äußert sich in der Regel als Liebeswunsch dem andersgeschlechtlichen und gleichzeitig als Todeswunsch dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gegenüber.
Die Rivalität gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil kann sich bis zu einem Todeswunsch gegenüber dem Rivalen steigern. Der sexuelle Wunsch gegenüber der Person des entgegen gesetzten Geschlechts ist hierzu die Triebfeder. Ein Ödipus-Konflikt wird zum Ödipus-Komplex, wenn die kindliche Entwicklung ungünstig verläuft. Dies ist der Fall, wenn sich das Kind bzw. der erwachsene Mensch von dem geliebten Elternteil nicht loslösen kann. Die im Volksmund bezeichneten Muttersöhnchen können hierfür ein Beispiel sein. Eine mögliche Folge dieses Ödipus-Konfliktes kann die Verleugnung der eigenen Geschlechtsrolle, massive Probleme in der Gestaltung einer partnerschaftlichen Beziehung sein. Die frustrierten Triebwünsche, die sich hieraus ergeben, können sehr unterschiedlich kompensiert werden und zu Verhaltensauffälligkeiten wie Sucht und auch Gewaltbereitschaft führen. Bei einer positiven Entwicklung steht am Ende der phallischen Phase die Auflösung des Ödipus-Konfliktes durch die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und oftmals die Übernahme der elterlichen Ge- und Verbote. Beim positiven Verlauf der phallischen Phase kann durch die Auseinandersetzung mit den Eltern, die auf die Triebbedürfnisse reagieren, das ÜBER-ICH entstehen.
8. 4. Die Latenzphase (vom 6. bis etwa 12. Lebensjahr)
In der Latenzphase ist ein Stillstand der Sexualentwicklung zu bemerken. Durch die Dynamik innerhalb der Persönlichkeit entstehen die Abwehrmechanismen. Das Kind wird fähig, für verschiedene Pflichterfüllungen wie Schule und dergleichen auf die Befriedigung der Lust und des Triebes zu verzichten. Die Libido wird auf einen anderen Zeitpunkt verschoben bzw. in eine andere Energie wie z. B. Sport oder Schule kompensiert. Die Energie der Libido wird verlagert und auf andere Bereiche umgelenkt.
8. 5. Die genitale Phase (etwa ab dem 12. Lebensjahr)
Mit Beginn der Adoleszenz, also der Vorpubertät, erwacht die Sexualität unter dem Einfluss der biologisch gesteuerten Umorientierung des Körpers. Die körperlichen Möglichkeiten eröffnen nun eine weitere Dimension der Lustbefriedigung. Die Fortpflanzung ist unter dem Einfluss der Geschlechtshormone nunmehr möglich. Während in den vorhergehenden Phasen es um den Selbstbezug ging, wird nun das Triebbedürfnis sich in Richtung Partner verlagern. Sexualpartner werden nun außerhalb der Familie gewählt und das Suchen nach einer Partnerschaft stellt ein wichtiges Training sozialer Kommunikation und Interaktion dar. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Freud die einzelnen Phasen nicht scharf abgetrennt sah sondern von fließenden Grenzen bzw. von Überlappungen zwischen Anfang und Ende einer Phase ausging. Freud geht davon aus, dass das vorherige erfolgreiche Durchlaufen einer Entwicklungsphase Bedingung ist, damit die nächste ebenfalls erfolgreich sein kann. Die Art der Bewältigung, die eine Triebregung innerhalb eines bestimmten Entwicklungsabschnittes erfährt, ist dafür ausschlaggebend, wie sich Fähigkeiten und Charakter des Menschen entwickeln. Bei frustrierender Triebentwicklung und elterlicher Unterdrückung des Lustempfindens, können, wenn dies in massiver Weise geschieht, neurotische und psychotische Störungen entstehen. Zwangsverhalten und unsoziale Verhaltensstörungen können eine Auswirkung der negativen Entwicklung sein.
23. Erstellen Sie für jede Entwicklungsphase eine eindeutige und aussagekräftige Definition.
9. Bedeutung der Freudschen Phasenlehre für die Erziehung
9.1 Folgerung für die Erziehung in der oralen Phase (1. Lebensjahr)
Kleinkinder und Babys benötigen besonders viel emotionale Zuwendung, eine zuverlässige Bezugsperson, Zärtlichkeit und eine liebende Geduld, die auch mit lautem Schreien positiv umgeht. Intensiver Hautkontakt sowie positive Reizung aller Sinnesorgane sind unabdingbar. Eltern und Erzieher sollen für eine angemessene, hygienische, nicht gesundheitsgefährdende und den sozialen Normen entsprechende Befriedigung der oralen Bedürfnisse möglich machen.
9. 2 Folgerung für die Erziehung in der analen Phase (2. bis 3. Lebensjahr)
Oft beginnen sehr ehrgeizige Eltern die Reinlichkeitserziehung viel zu früh. Kinder werden oftmals sehr streng abgerichtet bitte sehr schon mit einem Jahr „trocken“ zu sein. Aus psychoanalytischer Sicht ist dies falsch. Die Reinlichkeitserziehung soll nicht zu früh, auch schon aus anatomischen Rahmenbedingungen heraus, und nicht zu streng gehandhabt werden. Erziehungsmittel sollen nicht Strafe und Ärger sondern Lob, Anerkennung, Zuneigung und Ermutigung sein. Der Ausspruch „Bah, was hast Du denn da gemacht..!“ sollte unterlassen werden. Kinder sollten in der analen Phase die Möglichkeit haben, im Garten mit Sand oder am Küchentisch mit Knete, Ton und Fingerfarben so richtig rummatschen zu können. So kann das Interesse an dem eigenen Kot abgelenkt werden mit den gesellschaftlich akzeptablen Materialien, die oben genannt sind. Die im Volksmund benannte Trotzphase ist hier als von Freud bezeichnete anale Phase sehr wichtig zum Entstehen des ICHs. Selbst-Steuerung und Selbst-Aktivität werden durch Lob unterstützt. Ungeduldiges Durchbrechen verzögert sie. Damit sich aber auch das Realitätsprinzip entwickeln kann, müssen sehr wohl Grenzen gesetzt werden und Kindern gezeigt werden, dass sie nicht alles machen können. Ansonsten würde eine ES-Dominanz entstehen, die, wie schon erwähnt, das Kind und die Eltern in eine Verwöhnungsfalle führen würden.
9. 3 Folgerung für die Erziehung in der phallischen Phase
Eltern sollten sich sehr bewusst sein, dass sie gerade in dieser phallischen Phase absolute Vorbilder für ihre Kinder sind. Jede Handlungsweise der Eltern, und seien es kleinste Mimiken, Gestiken und Tonlagen, werden von dem Kind wie von einem Schwamm aufgesogen. Die Eltern sollten sich so verhalten, wie sie es vom Kind wünschen. Ein ungünstiger Verlauf des Ödipus-Konfliktes kann durch ein entspanntes, angstfreies und liebevolles Familienklima verhindert werden. Das Herzeigen der Geschlechtsteile, das Sich-Ausziehen-Wollen sollte nicht großartig beachtet werden und schon gar nicht mit Strafe oder Ärger gesühnt werden. Erfahrene Eltern wissen, dass dies eine kurze Phase ist, die schnell wieder vorüber geht.
9. 4 Folgerung für die Erziehung in der Latenzperiode und der genitalen Phase
Auch in dieser Phase ist es weiterhin wichtig, dass Eltern als Ansprechpartner da sind. Besonders die gewaltigen Unruhen und Unsicherheiten in der genitalen Phase sollten Eltern beratend, fördernd aber so wenig wie möglich kommandierend begleiten.
9. 5 Erziehungsfehler in der Erziehung
Ablehnung, Vernachlässigung, antiautoritärer Umgang, übermäßige Verwöhnung sorgen für zu geringe oder zu starke Bindungen zwischen Eltern und Kindern. Derartige Erziehungsfehler begünstigen ein Ungleichgewicht der einzelnen Persönlichkeitsinstanzen und die Realität wird ebenfalls nicht genügend berücksichtigt. Die daraus entstehende ICH-Schwäche kann ein Auftreten von unangemessenen Ängsten und einen übertriebenen Einsatz von Abwehrmechanismen bewirken. Dies wiederum führt zur Verfälschung, Verzerrung oder Negierung der Realität, Verhaltensauffälligkeiten, die der Realität nicht angepasst sind, können daraus entstehen, Neurosen und weitere seelische Fehlentwicklungen, die dann eine Therapie von Nöten machen, können dann die Folge sein.
24. Erstellen Sie ein positives Fallbeispiel, indem Erzieher richtig im Sinne der Psychoanalyse mit einem Kind von 0 bis zum 20. Lebensjahr pädagogisch arbeiten.
Versuchen Sie dabei möglichst viele der o.g. Folgerungen für die Erziehung in
diesem Fallbeispiel zu verarbeiten.
10. Psychoanalytische Therapie – Behandlungsmethode
Sigmund Freuds Therapiecouch
"In der Regel liegt der Patient auf einer Couch, in einem Zustand größtmöglicher Entspannung. Der Psychoanalytiker sitzt hinter ihm, um ihn nicht abzulenken. Der Patient, oder auch Analysand, wird dann gebeten, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und alles zu erzählen, was ihm gerade einfällt. Er darf auf keinen Fall versuchen, seine Gedanken zu ordnen oder logisch zu verketten. Alles muss in dem Moment gesagt werden, da es ihm einfällt (…) Verständlich, dass am Anfang Schweigen und Zögern nicht zu vermeiden sind. Denn die Person kämpft vielfach zwischen den Gedanken und ihrer persönlichen Moral. Sie muss aber wissen, dass der Psychoanalytiker völlig neutral ist und sich niemals schocken lässt, denn für ihn ist alles ebenso natürlich wie Essen und Trinken. Der Psychoanalytiker gibt nie ein moralisches Urteil ab, sonst wäre er wie ein Chirurg, den der Anblick einer Wunde erblassen lässt. (…)
Nach und nach wird der Sinn der zusammenhanglosen Worte erkennbar: Die Geschichte der Krankheit, die Kindheit, die Eltern, Verdrängung, Triebe, peinliche Erlebnisse (…). Alles vermischt mit zahlreichen Bemerkungen aller Art, Aggressivitäten, Zögern, Schweigen (…). Zu gegebener Zeit greift der Psychoanalytiker ein, und die eigentliche Interpretation beginnt. Selbstverständlich muss der Psychoanalytiker ein im Umgang mit Menschen äußerst erfahrener Psychologe sein. Die Psychoanalyse ist für den Patienten oft unangenehm: Der ganze Seelengrund kommt an die Oberfläche und der Umgang mit einem ängstlichen oder empörten Patienten erfordert viel menschliche Wärme und absolute Objektivität. (…) Das einfache theoretische Erlernen einiger psychoanalytischer Grundsätze versetzte schon viele Eltern in die Lage, ein gestörtes Familienklima zu verstehen und zu verbessern. (…) Die Psychoanalyse ermöglicht (…), einen riesigen menschlichen Mechanismus zu verstehen, der tagtäglich unser Leben steuert, sowie die Mitmenschen zu akzeptieren und zu lieben.“
Arbeitsaufgabe:
25. Erklären Sie, welches Menschenbild in dem Text von Pierre Daco deutlich wird.
26. Benennen Sie die Funktion des psychoanalytischen Handelns, wie es im Pierre Daco-Text genannt ist. Was bewirkt der Analytiker?
27. Versuchen Sie, aus diesen Prinzipien etwas für ihr eigenes Leben, für den Umgang mit Mitmenschen und für ein späteres pädagogisches Handeln abzuleiten. Was lässt sich übertragen, was nicht?
28. Diskutieren Sie kritisch die Thesen, die Daco bezüglich der Fähigkeiten des Analytikers formuliert.
10.1 Psychoanalyse im Gesundheitswesen
In unserem Gesundheitswesen ist die Psychoanalyse in Form zweier von ihr abgeleiteter Verfahren vertreten - der analytischen Psychotherapie und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Es handelt sich dabei um psychoanalytisch begründete Behandlungsmethoden für seelisch bedingte Erkrankungen bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Sie unterscheiden sich vor allem in der Intensität der Behandlung, die je nach Bedarf unterschiedliche Zeitdauer und Wochenfrequenz der Sitzungen erforderlich macht. Beide Verfahren werden nach Antrag von den Kassen bezahlt, sofern der Psychotherapeut Arzt oder Psychologe ist, über eine psychoanalytische Ausbildung verfügt und bei den Kassen zugelassen ist.
Zunächst führt der Therapeut mit dem Patienten mehrere Vorgespräche und entscheidet dann mit ihm zusammen über den erforderlichen Behandlungsumfang, der dann bei der Kasse beantragt wird:
Analytische Psychotherapie
Einzelsitzungen 80 - max. 240-300 Stunden
2-4 Stunden pro Woche
Gruppensitzungen 80 - max. 150 Doppelstunden
2 Sitzungen pro Woche
Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
Einzelsitzungen 50 - max. 100 Stunden
1 Stunde pro Woche
Gruppensitzungen 40 - max. 80 Doppelstunden
1 Sitzung pro Woche
Kurztherapie 25 Stunden
1 Stunde pro Woche
Für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen gibt es speziell ausgebildete, von den Kassen zugelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.
Viele Psychoanalytiker führen auch analytische Paar- und Familientherapien durch, die jedoch selbst bezahlt werden müssen, da sie noch nicht zu den von den Krankenkassen anerkannten Leistungen zählen.
Privatkassen zahlen ebenfalls für psychotherapeutische Leistungen, allerdings im Rahmen eigener Vertragsregelungen, die vom Versicherten jeweils geklärt werden müssen.
10. 2 Gründe, psychotherapeutische Hilfe zu suchen
Alle psychisch bedingten Symptome können Gründe sein, psychotherapeutische Hilfe zu suchen: Ängste, Depressionen, Schlafstörungen, Ess-störungen, sexuelle Störungen, sich wiederholende Beziehungsprobleme, Zwangsgedanken (z.B. Waschzwang, Kontrollzwang), sowie körperliche Beschwerden, für die der Arzt keine ausreichenden körperlichen Ursachen findet.
Die Psychoanalyse versteht sich jedoch nicht als reine Symptombehandlung, sondern als ganzheitliche Behandlung eines Menschen, dessen spezifische Biographie und Konfliktverarbeitung in seinem psychischen Leiden ihren Niederschlag findet. Neben der Heilung der Symptome, die oft schnell abklingen können, umfasst die analytisch orientierte Psychotherapie die Entwicklung neuer Lösungen und Handlungsmuster im Umgang mit sich selbst und anderen. Diese veränderten Konfliktbewältigungsmuster machen belastbarer und sollen für eine anhaltende Besserung sorgen. Die Wirksamkeit sowie der lang anhaltende Erfolg der psychoanalytisch begründeten Therapieverfahren wird durch viele wissenschaftliche Untersuchungen belegt.
Arbeitsaufgabe:
29. Erläutern Sie Ziele und Funktionsweisen der psychoanalytischen Therapie.
11. Kritische Würdigung der psychoanalytischen Theorie
Haben Sie es auch gemerkt? Als Sie die Abschnitte zur analen, phallischen und genitalen Phase durchgearbeitet haben? Die Beschreibungen von kindlicher Lust im Umgang mit Kot und dergleichen hat vielleicht auch bei Ihnen, auf jeden Fall bei vielen Menschen, Ärger, ja sogar Wut und Ekel hervorgerufen. Dies ist ein Teil der Begründung für massive Kritik gegenüber der psychoanalytischen Theorie. Die Behauptungen bezüglich der kindlichen Lust stehen oft im Widerspruch mit der gesellschaftlichen Moral, nicht nur heutzutage, wo vieles aufgeklärter und angeblich lockerer zu sein scheint, sondern im besonderen Maße auch in der Zeit, wo Freud seine Theorie postulierte. Damals herrschten besonders strenge moralische Vorstellungen, die in eine neurotische gesellschaftskonforme Verklemmung hinein gingen. Die wütende Reaktion damals sowie auch heute könnte man als kollektiven Abwehrmechanismus gegen das Beschäftigen mit dem eigenen Unterbewussten, dieser dunklen Tiefe des menschlichen Seins, ansehen.
Die Kritiker haben noch weitere Aspekte zusammengetragen:
- Der Mensch als reines Triebwesen und von sexuellen und aggressiven Triebimpulsen gesteuert entspricht nicht der Wirklichkeit. Kritiker vermissen in Freuds Menschenbild und der Beschreibung des psychischen Apparate sowie der Triebentwicklung Selbst-Steuerung und Autonomie.
- Der Todestrieb Thanatos wird besonders viel kritisiert, zumal er nicht zu der ursprünglichen Theorie Freuds gehörte, sondern erst aus der praktischen Behandlungstätigkeit mit Teilnehmern des ersten Weltkrieges entstand.
- Freuds Psychoanalyse wird auch deshalb schwer kritisiert, weil die Sexualität sehr stark betont wird. In Verkennung der Tatsache, dass Freuds Definition des Begriffes Sexualität auch weiter gehende Zärtlichkeiten beinhaltet, empfinden Kritiker Freuds Theorie als schwer sexuell lastig.
- Kritisiert wird, dass die Theorien von Freud nicht mit den typischen entwicklungspsychologischen Methoden wie Längschnitt- und Querschnittuntersuchung erarbeitet wurden. Die meisten Thesen von Freud wurden aus der klinischen Arbeit mit psychisch kranken Menschen entwickelt. Hat Freud sich auch um die Gesunden gekümmert?
- Kritiker sind sich einig, dass der weibliche Penisneid völlig falsch interpretiert wurde von Freud und hier ein einseitiges Frauenbild deutlich wird. Freud reduziert hier die Frau auf Begriffe wie Penisneid und Kastrationsangst. Freud schrieb über 30 Bände im Laufe seiner Karriere und ergänzte immer wieder seine Theorien. Dabei formulierte er oft unscharf und provozierte möglicherweise unbeabsichtigt Missverständnisse.
- Die wissenschaftliche Überprüfung seiner Theorien und Thesen lässt sich sehr schwer gestalten. Damit ist die Psychoanalyse unangreifbar und ein Stück weit eine Glaubensfrage. Abgesehen von sehr neuen und aktuellen wissenschaftlichen Ergebnissen der Hirnforschung ist die empirische Basis der Theorie von Freud sehr gering.
- Im Vergleich zu humanistischen Psychologen ist Sigmund Freud durch seine Determiniertheit bezüglich des psychischen Apparates eher pessimistisch einzuschätzen. Die absolute Festlegung von Trieben und Triebsteuerung lässt eine Verbesserung des Menschengeschlechts nur schwer möglich halten. Eine innewohnende positive Kraft des Menschen, die sich weiter und positiv entwickelt, wie es zum Beispiel der Humanist Carl Rogers in den Menschen sieht, lässt sich in Freuds Theorie nicht finden.
Positive Aspekte und Stärken der Psychoanalyse:
- Verglichen mit vielen anderen Theorien ist die Psychoanalyse sehr umfassend und gibt viele plausible Erklärungen für menschliche Verhaltensweisen.
- Freuds Theorie hat das menschliche Denken auf die Wirkung frühkindlicher Erlebnisse gelenkt. Dies kam damals einer Revolution gleich, Kindheit und Erziehung wurden plötzlich viel wichtiger genommen. Freuds Theorie gibt wichtige Aspekte für die Psychiatrie, Erziehungsberatung und Alltagsgestaltung von Kindern und Erwachsenen. Wenn ein Interpretieren und Deuten von Verhaltensweisen nicht übertrieben wird, so können Menschen tatsächlich hinter dem häufigen Zu-spät- kommen des Partners, dem häufigen Vergessen von Schulmaterial bei Schülern, dem Versprecher des Lehrers, der die Stunde am Anfang beenden will und ganz bestimmten Konfliktsituationen zwischen Schülern und Lehrern aufgrund von Projektionen viel abgewinnen.
- Die Psychoanalyse hat durch die Entwicklung von Therapie- und Erziehungstechniken wie das freie Assoziieren und die Traumdeutung für die Forschung, Erziehung und für die Therapie eine Menge Anregung und Handlungsmöglichkeiten entwickelt.
Arbeitsaufgabe:
30. Erstellen Sie eine Grafik, in der Sie Vor- und Nachteile der Psychoanalyse gegenüber stellen. Beachten Sie die Regeln für Mind-Maps und benutzen Sie unter anderem deshalb nicht zu viel Text in Ihrer Grafik.
31. Entwerfen Sie für die nächste Plenumsphase ein Rollenspiel, in der Sie die Interaktion zwischen den Instanzen verdeutlichen. Sprechen Sie sich ab, welche Gruppe die ICH-Schwäche, ÜBER-ICH-Schwäche und ES-Schwäche darstellen soll.
12. Freud und die aktuelle Hirnforschung
Freud entwickelte (…) die Idee, dass eine gleichzeitige Tätigkeit zwei neuronaler Kontaktpunkte, die später Synapsen genannt wurden, die Leitfähigkeit dieser Kontakte erhöhte. Erst 50 Jahre später wurde diese Idee von Donald Hebb wieder aufgegriffen, die heute als Hepp-Synapse bekannt ist (…) und an der das Phänomen der „Langzeitpotentierung“ (LTP) als eine Grundlage von Lernen und Gedächtnisbildung studiert werden kann. Untersuchungen des amerikanischen Neurobiologen Eric Kandel zur Langzeitpotentierung wurde im Jahr 2000 ebenfalls mit dem Nobelpreis gewürdigt. Warum Freud seinen „Entwurf“ der Psychologie nicht veröffentlichte, darüber habe ich keine genauen Auskünfte gefunden. Ich vermute, dass er die Vergeblichkeit seines Tuns, auf Grundlage der damaligen Kenntnis, der Arbeitsweise des Gehirns, das Psychische erklären zu wollen, einsah. Er wandte sich enttäuscht von der Neurobiologie ab und äußerte sich später an vielen Stellen skeptisch bis ablehnend über die Möglichkeiten, das Psychische neurobiologisch erklären zu können. (…)
Aktuelle neurobiologische Erkenntnisse legen die Richtigkeit der Vermutungen Freuds nahe. So berichtet die Zeitschrift GEO im Dezember 2004 über das so genannte Zwei-Ebenen-Modell:
„Nach dem Zwei-Ebenen-Modell der menschlichen Psyche stellt das Unbewusste das innere einer Kugel dar. Das Bewusstsein spielt sich lediglich am Rande ab. Wie sehr das Unbewusste das Bewusstsein gestaltet, belegen viele Experimente. Die britischen Psychologen Peter Halligan und David Oakley entwarfen ein Modell, welches das Unbewusste als Kugel darstellt. Danach laufen alle Aktivitäten des Gehirns durch die Ebene Zwei, also durch den Korpus der Kugel. Dort arbeitet eine zentrale exekutive Struktur, eine Art Entscheidungsfinder, der unser Handeln kontrolliert, postulieren die Psychologen. In jedem Moment filtert ein solcher „Erkenntnis-Manager“ Daten aus der Informationsflut und hebt sie auf „Ebene Eins“, ins bewusste „Hier und jetzt“ – lediglich kleine Ausstülpungen an der Oberfläche der Kugel. Beispiel: Ist ein Vortrag interessant, lauscht jeder Zuhörer aufmerksam – der Manager wählt nur diese Inhalte für den Aufstieg zur Ebene Eins. Der unbequeme Stuhl, Straßengeräusche, Kaffeegeruch, dringen zwar ein, werden aber, da unwichtig, nicht weiter geleitet. Tuschelt jedoch jemand nebenan und es fällt unser Name, schaltet die Zentrale sofort um, und wir registrieren den Vorgang. Selbst Gedanken, meinen die Forscher, die wir konzentriert verfolgen, werden auf Ebene Zwei vorgeformt, bevor wir sie über Sprache und Schrift kundtun. Der tiefere Sinn? Um in komplexen sozialen Gruppen zu bestehen, soll unser Außenbild so beständig wie möglich erscheinen. Deshalb erschaffe der innere Manager auf der Ebene des Unbewussten fortwährend eine stabilere Präsentation des Individuums unserer Selbstdarstellung.“
Arbeitsaufgabe:
32. Fassen Sie den Text über das Zwei-Ebenen-Modell mit eigenen Worten zusammen und diskutieren Sie die Bedeutung für die Glaubwürdigkeit einzelner Theorieelemente von Freud.
12. 1 Roths Ebenen der Psyche (2006)
Gerhard Roth, Neurobiologe an der Universität Bremen und Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs, sieht drei zentrale Annahmen Freuds bestätigt:
„Das Unbewusste hat bei weitem mehr Einfluss auf das Bewusste als umgekehrt, es liegt zeitlich weit vor dem Bewusstsein, das bewusste ICH hat wenig Einsicht in die Grundlagen seiner Wünsche und Handlungen. Für Freuds Vorstellungen des seelischen Apparates finden sich in Roths Modell der Psyche zahlreiche Entsprechungen – Hirnregionen und zugehörige Ebenen sind vergleichbar. Anders als Freud unterscheidet Roth jedoch nicht drei sondern vier Ebenen, die das menschliche Verhalten steuern. Dies sind: 1. Ebene: Grundfunktion, 2. Ebene: Emotionales Lernen, 3. Ebene: Bewusste Gefühle, 4. Ebene: Kognition und Sprache“
Die Tatsache, dass ein Neurobiologe wie Gerhard Roth Aspekte der Freudschen Theorie bestätigt ist wissenschaftlich gesehen sensationell. Jahrzehntelang hat gerade die Neurobiologie, also die Hirnforschung, Freuds Theorien stark kritisiert und diffamiert. Neue wissenschaftliche Methoden der Hirnstrommessungen lassen Roth die oben genannten Thesen formulieren.
Arbeitsaufgaben:
33. Diskutieren Sie eventuelle Parallelen zwischen Roths Ebenen der Psyche und Freuds anthropologischen Grundthesen.
34. Erläutern Sie die Bedeutung des Instanzenmodells von Freud für die Libidoentwicklung.
35. Stellen Sie die Entstehung psychischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten dar, die sich aus einer fehlerhaften Entwicklung der Libido ergeben können.
36. Diskutieren Sie schriftlich ob und wo Sie in Ihrem eigenen Leben Abwehrmechanismen einsetzen. Formulieren Sie ggf. sinnvolle Verhaltensanalysen.
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Fußnoten:
Exil = Verbannung, Verbannungsort; Zufluchtsort.
Hysterie = Hysterie ist eine Krankheit, bei der neben seelisch bedingten Verhaltensaufälligkeiten wie etwa übertriebener Zorn, Ärger, Groll, Wahnvorstellungen bzw. Wein- oder Schreikrämpfe, körperliche Störungen auftreten.
Stipendium = finanzielle Unterstützung für Schüler, Studenten und junge Wissenschaftler [<lat. stipendium ”Sold, Löhnung
Libido= [die; lateinisch]=Begierde, Geschlechtstrieb; nach S. Freud eine spezifische sexuelle Triebkraft, die die energetische Komponente vieler seelischer Vorgänge darstellt; nach C. G. Jung eine allgemeine seelische Energie, Lebenskraft.
Vgl. Freud 1900, gesammelte Werke, Band 2 und Band 3, Seite 620
Vgl. Freud, gesammelte Werke, XI, Seite 305 ff.
Kuratorium = Aufsichtsgremium; Gruppe von Personen, die die Aufsicht über eine öffentliche Körperschaft o. Ä. führt, sie berät oder fördert.
Analysandin bzw. Analysand = Klient bzw. Patient innerhalb einer Psychoanalyse
Freud, S: Abriss der Psychoanalyse, das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M. 1989, Seite: keine Angabe
Freud, S: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Band 1, Frankfurt, Seite 511, 1969
In diesem Zusammenhang würde Piaget von der Adaptation, also dem Wechselspiel zwischen Akommodation (Anpassung an die Umwelt) und Assimilation (gedankliche Anpassung der Umwelt an innerlich vorhandene gedankliche Schemata) sprechen.
Vgl. Freud, gesammelte Werke, 1933
konstitutionell = auf einer Konstitution (2) beruhend, die Konstitution betreffend; Konstitution =Rechtsbestimmung, Verordnung, Satzung;
Akzidentelle= das Zufällige, das Unwesentliche
Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse 1938
Vgl.: Freud, gesammelte Werke 1978, Band 11, Seite 354
kongruent = deckungsgleich, übereinstimmend
homophile = der Homosexualität zuneigende Haltung, Veranlagung
Das Immunsystem der Psyche: Wie wir uns vor unangenehmen oder bedrohlichen Einsichten schützen, in: Psychologie Heute Compact, November 2004 ff.
psychosomatisch = auf der Einheit von Seele und Körper beruhend, von seelischen Vorgängen beeinflusst
Negieren = Verleugnen, nicht wahr haben wollen, völlig ignorieren
forcieren= heftig oder mit Gewalt vorantreiben, beschleunigen
Freud 1920, gesammelte Werke, VIII, Seite 35
Freud, Anna: Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen, Verlag Hans Huber; 1965, Bern, Seite 29 f
Freud, Anna: a.a.O., Seite 30
Die Angaben bezüglich des Lebensalters für die phallische Phase stellt sich in der Literatur unterschiedlich dar.
Daco, Pierre: Psychologie für Jedermann, AT Verlag, Aarau, 1995, Seite 172 - 173
Roth, Gerhard: Wie das Gehirn die Seele macht – Vortrag am 22.04.2001 bei den 51. Lindauer Psychotherapiewochen
GEO Nr. 12/2004, Seite 164
GEO Nr. 5/2006, Seite 157